Wider die Schizophrenie beim Wilhelminismus

  • Wider die Schizophrenie beim Wilhelminismus

    (Auch ein Stück Wilhelminismus: Eine Parkbank bei Huis Doorn. Formschön und schlicht !)

    In den 26 Jahren zwischen 1888 und 1914 sind in einer Phase intensiven urbanen Wachstums neue Stadtquartiere entstanden und altstädtische Quartiere überformt worden, deren Attraktivität bis heute unerreicht und ungebrochen ist. Staats- und Kommunalbauten, Kirchen, Synagogen und Wohnquartiere zeichnen sich jeweils durch ein hohes Maß an Vielfalt, Detailliebe, humanen Maßstäben und Ortsbezug aus, welches die seit den 20er Jahren zur - bis heute andauernden - Vorherrschaft gelangte, sogenannten ‚Moderne’ nie erreicht hat.

    Schon seit Jahrzehnten treibt mich die Verwunderung darüber um, daß man einerseits diese wilhelminische Baukultur durchaus schätzt (Beleg hierfür ist, daß Quartiere dieser Epoche in der Regel zu den begehrtesten Wohnlagen in der ganz überwiegenden Zahl der deutschen Städte gehören), andererseits aber dem Namensgeber dieser Stilrichtung grundsätzlich negativ gegenüber eingestellt ist. Dies nicht als schizophren zu bezeichnen, fällt schwer !

    Niemand behauptet natürlich, daß der Kaiser während der Jahre seiner Regierung in jedes einzelne Bauprojekt (vom Berliner Dom, über das Kyffhäuser Denkmal bis zur letzten Berliner Mietskaserne) persönlich involviert war. Aber er hat mit seinen Entscheidungen zumindest ein baupolitisches Klima geschaffen, in dem Architekturen entstehen konnten, von denen nicht zuletzt Immobilien- und Fremdenverkehrswirtschaft bis heute zehren.

    Auch wenn das von den seinerzeitigen Kriegsgegnern geformte, von allen deutschen Staaten nach 1918 übernommene und von Fritz Fischer über Guido Knopp bis hin zu John C.G.Röhl festgeschriebene Bild des Kaisers in der polit-medialen Öffentlichkeit leider immer noch das vorherrschende ist, so bekommt es durch die Werke von Nicolaus Sombart, Christopher Clark und Christina Croft zunehmend Risse und erweist sich – für den unvoreingenommenen Betrachter - als interessengesteuert und kontrafaktisch.

    Mir hat es in diesem Zusammenhang nie eingeleuchtet, wie jemand, der das Aufblühen der deutschen Städte massiv förderte und daraus Freude und Genugtuung für sich gewann, diese positive Entwicklung durch einen absichtlich herbeigeführten Krieg, bewußt und willentlich hätte aufs Spiel setzten sollen !

    Mit der Diskussion auf diesem Strang möchte ich weder einen ‚skurrilen Kaiserkult’ betreiben, noch der Wiedereinführung der deutschen Monarchien das Wort reden (wenn allerdings sowohl das Volk als auch die jeweils ‚zuständigen’ Dynastien gemeinsam eine solche wünschen würden, wäre ich natürlich nicht dagegen), sondern durch eine fairere Sicht auf Kaiser Wilhelm II. dazu beitragen helfen, daß sich die Architektenschaft aus der Umklammerung der Modernisten befreien kann und wieder in die Lage versetzt wird, ohne falsche Scheu auf Elemente wilhelminischer Baukultur zurückzugreifen zu können.

    Eine solche geschichtspolitische ‚Entkrampfung’ würde selbstredend auch unseren Rekonstruktionsbelangen zugute kommen.

    Hier noch zwei Links

    • Beginn eines fulminanten Artikels von Ingo Sommer über „Wilhelm II. und die Baukunst“

    http://duncker.cloudpublish.co.uk/read/?id=6049&type=journal_article&preview=1&exit=https%3a%2f%2felibrary.duncker-humblot.com%2fzeitschriften%2fid%2f26%2fvol%2f25%2fiss%2f1545%2fart%2f6049%2f&p=4&uid=dundh&t=1587290624&h=04f226c41cf24f8f4ad603f502abe440

    • Informative Internetseite zu Kaiser Wilhelm II.

    Wilhelm II. | Einleitung


    Ich freue mich, auf eine lebhafte Diskussion!

  • In Deutschland (und GB) verkauft sich gerade "Die kürzeste Geschichte Deutschlands" ganz gut.

    Der britische Germanist und Schriftsteller James Hawes,...ist ein Mann mit Mut zur steilen These. Die Mutter aller deutschen Probleme, so argumentiert er, heiße nicht Migration. Die Mutter aller Probleme heiße Ostelbien.

    Die Süddeutsche Zeitung kommentiert: "Ambitioniert, meinungsstark und unterhaltsam."

    Ich zitiere mal James Hawes: "Europa muss anerkennen, dass die Jahre 1871 bis 1945 eine preußische Anamolie für das Land zwischen Rhein, Elbe und den Alpen darstellen, dem Staatsverehrung, puritanischer Eifer und schmissiger Militarismus immer völlig fremd gewesen waren." Kurz: Preußen gehört nicht zu Deutschland.

    Die Zusammenfassung der Kundenrezensionen bei AMAZON ergibt 4,1 von 5 mögliche Sternebewertungen.


    Immer diese Engländer ....

  • Pagentorn : Wilhelm II hat eigentlich recht lange regiert, aber das fürchterliche Ende, der erste Weltkrieg, überschattete halt im Nachhinein alles. Daß in seine Zeit auch der massive Ausbau der Städte, der Ausbau Berlins zur Großstadt (wobei es allerdings erst die Weimarer Republik geschafft hat, aus dem "Zweckverband" ein Stadtgebiet zu machen), der Bau der vielen stabilen Ziegelhäuser mit Dächern, die z.T. heute noch halten(!), ein großer Aufschwung von Wissenschaft und Industrie stattfand, ist da völlig aus dem Blick geraten.

    Stahlbauer : ach, das ist die alte Leier, die nach dem 2. WK aufgebracht wurde, die Legenda negra vom "preußischen Militarismus". Ostelbien ist schon von Otto I. eingemeindet worden, und das Kaiserreich war den Engländern verhaßt, weil sie es als kontinentale Konkurrenz betrachteten.

  • Aber er hat mit seinen Entscheidungen zumindest ein baupolitisches Klima geschaffen, in dem Architekturen entstehen konnten, von denen nicht zuletzt Immobilien- und Fremdenverkehrswirtschaft bis heute zehren.

    Mich würde genauer interessieren, inwiefern Wilhelm II. den Historismus aktiv gefördert und in eine bestimmte Richtung gelenkt hat, immerhin gab es Historismus ja schon vorher und auch nicht nur in Deutschland, sondern in allen europäischen Ländern. Außerdem war der Kulminationspunkt des europäischen Historismus im Jahr des Regierungsantritts Wilhelm II., also 1888, vielleicht schon überschritten, in den meisten europäischen Großstädten war das Gros der Historismusbauten um diese Zeit schon errichtet, man denke z.B. an die Ringstraße in Wien, die schon seit den 1860er Jahren erbaut wurde. War das in Berlin nicht auch der Fall? Das ist nur eine Frage, ich kenne mich mit der Berliner Architektur nicht gut aus. Eine Antwort würde mich sehr interessieren, danke!

    "In der Vergangenheit sind wir den andern Völkern weit voraus."

    Karl Kraus

  • Stahlbauer : schwarze Legenden sterben nicht so schnell. Der Malthusianismus ist ja (bei den Grünen) auch immer noch am Leben, obwohl der von Friedrich List Anfang des 19. Jhdts bereits obsolet gemacht wurde.

    Leonhard : das Märkische Museum in Berlin gilt z.B. als Historismus-Bau, wobei ich finde, daß es eigentlich in seiner Idee mehr postmodern (im Sinne der 1980er Jahre) ist: es ahmt "künstlich" romanische, gotische, Renaissance-Bauten in der Art, wie sie in der Mark Brandenburg vorkommen, nach, mW sogar ihre Überformungen. Es wurde 1896, zu Zeiten Wilhelms II, gebaut, der daran wohl auch einigen Anteil nahm. Ich habe es mir mal angeschaut und finde es recht gelungen, weil es für die Exponate ein sehr stimmiges Umfeld bietet.

    Ich meine, das historistische Gebäude in Basel am Marktplatz (Rathausplatz) ist auch aus den 1890er Jahren.

    Ich denke, gar so kurzlebig war der Historismus nicht.

  • Ja natürlich, ich hab auch nicht behauptet, dass es in den 1890ern und später nicht auch noch Historismus gegeben hat. Ich meine nur, dass das Gros der Stilentwicklung bis 1890 schon passiert war und frage mich, was genau der Einfluss Wilhelm II. und seiner Politik auf die Architektur des Historismus gewesen ist. Es kann ja durchaus sein, dass da in Berlin noch was Besonderes passiert ist, ich hab z.B. schon mal was von einem speziell Wilhelminischen Neo-Barock gehört. Mich würde halt interessieren, worin diese Besonderheit besteht und ob es so etwas in Berlin vorher schon gegeben hat oder ob das erst unter W. II gebaut wurde.

    "In der Vergangenheit sind wir den andern Völkern weit voraus."

    Karl Kraus

  • Der Malthusianismus ist leider alles andere als eine schwarze These. Insbesondere wird Malthus bis heute von den Katholiken ohne stichhaltigen Grund angefeindet. Es ist so, als würde man den Überbringer der schlechten Nachricht köpfen. Malthus war gläubiger Christ und lehnte Geburtenkontrolle, Verhütung und umso mehr Abtreibung vehement ab. Er sagte halt Katastrophen voraus, die wohl auch eingetreten sind bzw dabei sind, einzutreten bzw durch von ihm abgelehnte Methoden partiell verhindert wurden. Es ist naiv zu behaupten, seine Vorhersagen seien nicht eingetroffen bzw widerlegt, gerade was den unglücklichen Kontinent Europa betrifft. Sieht man von der aufgezwungenen, letztlich fremdbestimmten Migration ab, vermehren sich die Bewohner Europas tatsächlich nicht, soweit hätten die Kritiker recht. Allerdings gilt es zu bedenken, wie diese "Entspannung" zustande gekommen ist: Kriege, nochmals Kriege, Ausrottungen, Demoralisierung und am Schluss Dekadenz und Unmoral - alles Phänomene, vor denen Malthus gewarnt hat. Auch der technische Fortschritt hätte nur einen Aufschub der Katastrophe bewirkt, wäre das Bevölkeruingswachstum ab ca 1880 bzw 1950 so ungebremst weitergegangen. Was die sog. 3. Welt betrifft, ist die Aussicht auf eine wahrlich malthusianische Katastrophe nach wie vor mehr als ein bloßes Damoklesschwert. Das Gerede mancher Christen, die dies nicht wahrhaben wollen, ist schier unerträglich.

    Malthus war ein großer und moralisch hochstehender Mann, der keinen Vergleich mit obskuren Gestalten à la Darwin, Freud etc verdient, schon gar nicht mit jenem verschrobenen und 150%zeitgeistigem Historiker. Er sagte halt bloß unangenehme Dinge, gegen die er kein Rezept wusste, was auch nicht sein Fehler war, da es ein solches nicht gibt.

  • @ursus carpaticus : lt. Prabel gab es ab 1890 die "Lebensreformbewegung", was ähnlich den bundesdeutschen Grünen später sei, und Corona sorge nun für einen ähnlichen Rückgang der Globalisierung wie der WK1. Fand ich eine interessante Bewertung, und rückt die damals im Schwange gewesenen Denk- und Handlungsweisen in ein neues Licht.

    Mit den angekündigten Katastrophen ist es so eine Sache, die vollziehen sich denn doch anders, wie gedacht.

  • Und der Typ tarnt sich noch als D-Fan!

    Kann man genauso sagen: Bayern gehört nicht zu D.

    Gut, das könnte sogar zutreffen. Hätte Josef 2 tatsächlich Bayern geschluckt, hätten alle Beteiligten identitätsmäßig nur gewonnen. Und Minga hätte als kleinere provinzielle Schwester der wahren Metropole der Mitte seine wahre Bestimmung gefunden!

    Was sollte man also laut diesem Weh namens Hawes tun? Berlin den Slawen zurückgeben? Polen bis zur Elbe-;Mulde Linie? Mit oder ohne Vertreibung? Oder gleich abmurksen? Mag Hawes überhaupt die Slawen oder geht er vom deutschen Supremat über die Ostvölker aus? Ist er gar in ganz widerwärtiger Anhänger eines überbordenden Germanismus, dessen die Preußen halt nicht würdig sind?

  • Kann man genauso sagen: Bayern gehört nicht zu D.

    Gut, das könnte sogar zutreffen. Hätte Josef 2 tatsächlich Bayern geschluckt, hätten alle Beteiligten identitätsmäßig nur gewonnen.

    Dann wäre Deutschland halt von Habsburg vereinigt worden. Bei diesem Vorhaben spielte ja durchaus die Absicht eine Rolle, den Schwerpunkt des Reiches wieder mehr ins Deutsche zu verlagern. In dem Fall wäre dann wohl Österreich die undankbare Aufgabe zugekommen, die deutschen Länder zur Einheit zusammenzuschweißen - und damit auch die Rolle des Dunkelmannes, der die Machtpolitik Europas durcheinanderbringt. Dann würden heute englische Autoren halt die These verbreiten, die deutsche "Großmannssucht" sei zurückzuführen auf die Ethnogenese der Österreicher, die ja (zum Teil) von germanischen Kolonisten abstammen; gerade durch die Grenzlage zum Osten sei hier eine besonders chauvinistische Mentalität entstanden. Österreich, so würden sie sagen, habe ja schon immer die deutschen Angelegenheiten durcheinandergebracht mit ihrer Großmachtspolitik, mit ihrem größenwahnsinnigen Ausgreifen auf die Throne Europas. "Schaut euch an, wie fortschrittlich und tolerant die Preußen waren, mussten sich da ausgerechnet die reaktionären Österreicher durchsetzen. Wie anders hätte sich Deutschland entwickelt.."

  • Es gibt auch andere Stimmen aus dem angelsächsichen Raum:

    Der in Cambridge lehrende australische Historiker Christopher Clark (Verfasser des Buches: "Die Schlafwandler - Wie Europa in den 1. Weltkrieg zog" realisierte vor neun Jahren für die BBC eine Dokumentation unter dem Titel "Frederick the Great and the Enigma of Prussia":

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    Auszug aus einem Interview mit der NZZ aus dem Jahr 2016:

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    Und bezüglich vermeintlichem preussisch-deutschen Militatrismus, sowie bezüglich einer neueren "legenda negra" (black legend) ein Auszug folgenden E-Buches: Pat Buchanan - „Churchill, Hitler and the Unnecessary War: How Britain Lost Its Empire and the West Lost the World" (2008)

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