St. Gallen - Quartiere zwischen Altstadt und Bahnhof

  • Eigentlich hatte ich vor, nach dem Muster Rorschacher Str. 1 bis 25 - Die erste planmässige Überbauung ausserhalb der Altstadt ab 1791 weitere Quartiersplanungen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorzustellen. Dies hätte aber einen immensen Zeitaufwand bedeutet, den ich zur Zeit nicht zur Verfügung habe. Stattdessen möchte ich in Galerieform diesen Bereich des Zentrums westlich der Altstadt vorstellen und dann bei gegebener Zeit separate Stränge zu den einzelnen Quartieren und deren Geschichte eröffnen.

    Die Talsohle westlich der Altstadt war bis ins frühe 19. Jahrhundert nur spärlich bebaut. Den grössten Teil der Fläche nahmen bis damals die 'Bleichen' zum Auslegen und Bleichen der gewobenen Leinwand ein. Eine Bebauung gab es bis damals vorwiegend entlang den Ausfallstrassen sowie verstreut private Landhäuser. Nachdem die Überbauung an der Rorschacher Strasse zwischen 1791 und 1802 fertig realisiert war und die Stadt erste Erfahrungen mit dem neuen 'Planungsinstrument' machen konnte, folgten weitere Quartiersplanungen:

    2. 1802 Bebauung entlang dem Oberen Graben

    3. 1807 Überbauung Frongarten

    4. 1808 Überbauung Bleicheli

    5. 1809 Überbauung Webersbleiche

    6. 1840/60 Quartiere vor dem Schibenertor

    7. 1861 Simonquartier

    Die Realisierung dieser Quartiere erfolgte noch vor der Eröffnung der Eisenbahn im Jahr 1856. Nur das westliche der beiden Quartiere vor dem Schibenertor musste durch Abschneiden einer Ecke der schräg verlaufenden Eisenbahnlinie angepasst werden. Dafür wurde es mit einem weiteren, privat erstellten Baublock (7), der dann der eidgenössischen Post vermietet wurde (heute mit dem Hotel Walhalla), ergänzt und zusammen mit dem neuen Bahnhof ein Ensemble geschaffen.

    Nachdem diese Quartiere fertig gebaut waren und St. Gallen ans schweizerische und internationale Eisenbahnnetz angeschlossen war, waren die weiteren Bebauungen nicht mehr aufzuhalten. St. Gallen wurde Dank der damals aufgekommenen Stickereifabrikation innert zweier Jahrzehnte zu einer wohlhabenden und einer der wichtigsten Exportstädte der Schweiz.

    Ich stelle zur Übersicht des eben Geschriebenens viermal denselben Stadtplanausschnitt zwischen 1828 und heute ein (die Nummern in den Stadtplanausschnitten entsprechen den chronologischen Quartiersnummern im Textabschnitt oben):


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    1) Stadtplan von Johannes Zuber 1828.

    Die Altstadt ist rechts angeschnitten. Der Planausschnitt zeigt den noch offenen Stadtgraben mit dem Schibenertor (oben rechts) und dem Multertor (Mitte rechts). Die braunen Flächen markieren Pflanzbeete (Schrebergärten) auf den damals nicht mehr benötigten Bleichen, da die Leinwandproduktion durch das Aufkommen von importierter Baumwolle verdrängt wurde. Während der in der Schweiz grassierenden Hungerjahre 1816-1818 widmete der Stadtrat diese brachliegenden Flächen zu Pflanzflächen um, damit die Bürger zusätzliche Nahrung selber anpflanzen konnten.

    Strassenmässig war dieser Bereich der Stadt durch zwei Ausfallstrassen gegliedert: die Zürcher Landstrasse vom Schibenertor aus entlang dem Hangfuss des Rosenbergs und die heutige St. Leonhard-Strasse vom Multertor aus, welche die südlichen Bereiche der westlichen Talsohle erschloss und Verbindungen ins Appenzellerland und Toggenburg ermöglichte.

    Zwischen diesen beiden Strassen floss der Irabach, der wohl seines dunklen Moorwassers wegen in Lateinisch "Aqua nigra" und abgeleitet davon Deutsch dann Irabach genannt wurde (heute Schwärzebach-Kanal). Das ganze Gebiet war sehr sumpfig, was man heute noch an vielen Häusern ablesen kann.


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    2) 1. Stadtvermessungsplan von Fierz und Eugster 1863.

    1863 war die Bebauung mässig vorangeschritten, und die Strassenstruktur mit vielen privaten Gartenanlagen entsprach vielmehr noch dem spätmittelalterlichen Stadtbild. Oben links ist der 1856 eröffnete Bahnhof eingetragen. Seine Ausrichtung - etwa 20 Grad abgedreht von der Talsohle - störte den sich langsam bildenden orthogonalen Stadtgrundriss. Dafür wurde er geschickt im Fluchtpunkt der Poststrasse platziert, die eigentlich ihre Fortsetzung direkt auf den Marktplatz hätte erhalten sollen, aber es bis heute (glücklicherweise!) nicht hat.



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    3) Stadtplan 1903.

    Vierzig Jahre später ist praktisch der ganze Boden in diesem Stadtteil zugebaut. Massgeblich dazu beigetragen hatte die Überbauung Vadian- und Davidstrasse ab etwa 1860 in spätklassizistischem Stil (links unten angeschnitten) sowie eine Verdichtung mit historistischen und Jugendstilbauten in Bahnhofsnähe.



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    4) Stadtplan 2020. Rot eingetragen die nicht mehr vorhandenen Baufluchten der frühesten Quartierbebauungen.

    Der Strassenraster hat sich bis heute kaum mehr verändert, ausser durch die Aufgabe der 3. und 4. Überbauung samt Strassennetz und in Bahnhofsplatznähe. Leider erfolgten hier ab den 1950er Jahren viele Abbrüche bedeutender Bauten vor allem des Historismus' durch Allerlei-Zweckbauten.

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    5) Flugaufnahme von Norden nach Süden, Winter 1917/18. Flugaufnahme Walter Mittelholzer, ETH E-Pics.

    Diese winterliche Flugaufnahme zeigt wie auf einem Schwarzplan die verschiedenen Quartiermuster. Zwischen der Altstadt und der schräg verlaufenden Eisenbahn erkennt man leicht die rechtwinklig geplanten Quartiere aus dem 19. Jahrhundert. Die zur älteren Bebauung hin meist dreieckigen Restflächen wurden als Plätze und Grünanlagen ausgeschieden. Zusätzlich zu den bereits erwähnten Quartiersbebauungen ist rechts auch das Vadian-Quartier (St. Leonhard-Strasse - Vadianstrasse - Davidstrasse) aus den Jahren um 1860/80 abgebildet.


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    6) Google maps-Ansicht von Süden nach Norden, 2020. https://club.baukultur.pictures

    Die Quartiere vor dem Schibenertor (obere Bildhälfte) von 1840/60 sowie die Überbauung Webersbleiche vor dem Multertor (links unten) von 1809 sind grösstenteils noch vorhanden, im Gegensatz zu den älteren, kleinteiligeren Quartieren aus dem ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Die Hinterhofbauten und freigebliebenen Hinterhöfe der Überbauung Webersbleiche mussten 2005/07 einem Waren-, Gewerbe- und Wohnungsbau weichen.


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    7) Ansicht vom Rosenberg Richtung Südosten auf die Quartiere zwischen Altstadt und Bahnhof. 1902 gelaufene Ansichtskarte, Rathe & Fehlmann, Basel.

    Im Vordergrund die beiden Quartiere vor dem Schibenertor und rechts dahinter das Quartier Webersbleiche.


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    8) Ansicht vom Rosenberg Richtung Süden auf die Quartiere zwischen Altstadt und Bahnhof. 1927 gelaufene Ansichtskarte, Paul Schmidt, Basel.

    Vorne die beiden Quartiere vor dem Schibenertor und dahinter das Quartier Webersbleiche. Rechts im Bild mit Fassadengerüst das 'Simonquartier' (7). Die Quartiere aus dem frühen 19. Jahrhundert oberhalb der 'Webersbleiche' sind in den Geschäftsbauten aus dem Historismus und Jugendstil untergegangen, blieben aber bis in die 1940er Jahre praktisch intakt. Im Vordergrund einzelne Villen auf dem Rosenberg an der Zwingli- und Winkelriedstrasse; rechts die Villa 'Rosa' (oder 'Vier-Jahrzeiten-Villa'), Winkelriedstr. 34, die bereits hier ausführlich gezeigt worden ist.


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    9) Ansicht von der Bernegg Richtung Norden auf das Bahnhofquartier und den Rosenberg. 1929 gelaufene Ansichtskarte, Guggenheim & Co., Zürich.

    Weiter westlich von diesen Quartieren aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts folgte dann das 'Vadianquartier', von dem bereits nach vierzig Jahren Bestand die ersten Bauten dem neuen Bahnhof und Hauptpost (1911-1914) weichen mussten. Die neue Hauptpost mit Turm befindet sich in Bildmitte und verdeckt teilweise den neuen Bahnhof (Begriffe zur Unterscheidung vom 'alten Bahnhof' von 1856 und der 'alten Hauptpost' im Simonquartier von 1861). Das Vadianquartier befindet sich vor der Hauptpost. Südwestlich des Bahnhofs siedelte sich zwischen 1900 und 1910 das Stickereiquartier (links unten) mit prächtigen Geschäfthäusern ('Stickereipalästen') in Jugendstil- und Neubarockformen an.

  • Ich beginne die Rundtour beim Schibenertor, dem einst wichtigsten Stadteinlass von Westen her. Der Torturm selbst steht zwar seit 1837 nicht mehr, aber in St. Gallen sind die Kreuzungen und Plätze vor den einstigen Toren immer noch mit ".....tor" benannt. Einzig das Schibenertor wurde im Volksmund in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wegen eines benachbarten Geschäftshauses, das auch als Namensgeber für die Tramhaltestelle diente, 'Union' genannt. Mit dem Abbruch dieses Geschäftshauses (s. weiter unten in diesem Beitrag) 1950 und der Aufhebung der Trambahn 1957 verschwand allmählich dieser Name wieder.


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    10) Blick vom Marktplatz auf das 'Schibenertor' und in die Bahnhofstrasse 2015.

    Über das Gebiet 'Schibenertor - Blumenmarkt' schrieb ich vor einigen Jahren eine ausführliche Arbeit, die hier heruntergeladen werden kann: http://www.sg-hausgeschichten.ch/st.gallen/blumenmarkt.pdf. So kann ich mich in diesem Strang wirklich auf die Bebauung ausserhalb der Altstadt beschränken (der Zugang zum Blumenmarkt ist links im Bild). Dennoch möchte ich hier noch ein paar Gegenüberstellungen von aktuellen und historischen Ansichten der Schibenertor-Bebauung vorstellen, weil sie im Zusammenhang mit der sechsten Überbauung ausserhalb der Altstadt 'Die Quartiere vor dem Schibenertor' von 1840 bis 1860 stehen.


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    11) Fotomontage mit dem 1837 abgebrochenen Schibenertor aus einer Aquatinta von 1831 in die heutige Situation.

    Die Lage des Torturms kann aufgrund historischer Abbildungen und dem Studium der Baugeschichte der Nachbarbauten ziemlich genau bestimmt werden. So stand seine südliche Seitenwand etwa in der in Richtung Bahnhof führenden Gleisaxe der Appenzeller Bahn, und die Axe der Tordurchfahrt entspricht etwa der heutige Trottoirkante.



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    12) "Bauamtsgebäude [rechts?] und Salzstadel [Mitte?] vor Scheibenerthor". Aquarellierte Zeichnung von Daniel Ehrenzeller, März 1839, Kantonsbibliothek St. Gallen.

    Durchschritt man das Tor, bot sich einem der Blick auf den Salzstadel und das Bauamtsgebäude, in deren Nachbarschaft sich weitere städtische Einrichtungen im Zusammenhang mit dem Baugewerbe befanden: so anstelle des Grabenpärkleins der Zimmerwerkplatz (links zwischen dem weissen und grünlichen Gebäude) sowie die Ziegelhütte und Kalkgrube am Unteren Graben. Im Hinblick auf die 1839 beschlossene Planung zum Bau zweier Quartiere vor dem Schibenertor wurden der Salzstadel und die Bauamtsgebäude abgebrochen und teilweise an die Steinach ins Gebiet des heutigen Elektrizitätswerk versetzt, wo sie heute nicht mehr vorhanden sind.

    Das Bild ist insofern auch speziell, weil es links den teilweise aufgefüllten und frisch bepflanzten Stadtgraben zeigt. Der Stadtgraben zwischen dem Schibener- und Multertor wurde 1839/41 aufgefüllt. Die Besitzer der an die Stadtmauer angebauten Häuser erhielten die ihnen vorgelagerten Grabenabschnitte unentgeltlich von der Ortsbürgergemeinde, mussten sich aber im Gegenzug verpflichten, den Graben auf eigene Kosten aufzufüllen und Gärten anzulegen. Während die ersten Gärten hier bereits frisch bepflanzt worden sind, ist dahinter ein Teil des Stadtgrabens auf der Höhe der ehemaligen städtischen Münze noch offen.

    Im Hintergrund links sieht man auf die Ostseite des Webersbleiche-Carrés von 1809ff., der fünften Überbauung ausserhalb der Altstadt (weisses und grünes Gebäude mit breiten Quergiebeln).


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    13) Schibenertor mit Oberer Graben 2 - 8 (von rechts nach links) anstelle des Salzstadels und Bauamtsgebäudes, 2022.

    Ab 1840 begann dann die Überbauung der ersten Etappe des Quartiers vor dem Schibenertor: zwei Längszeilen entlang der Bahnhofstrasse (damals noch 'Landstrasse nach Zürich') und an der Poststrasse. Zwischen den Kopfbauten dieser Zeilen entstanden je ein Doppelhaus dazwischen in Querrichtung. Im Hinterhof hatte jedes Wohnhaus ein Hintergebäude, das aber nicht zum Wohnen benutzt werden durfte. 1843 scheint das Quartier noch nicht vollendet gewesen zu sein, denn der Verwaltungsrat gestattete den Baubeginn der zweiten Etappe solange nicht, bis die erste Etappe fertig gebaut war. Die Bauplätze wurden von der Stadt versteigert mit der Verpflichtung, binnen eines Jahres mit dem Bau zu beginnen, andernfalls der Boden wieder an die Stadt zurückfallen sollte.

    Auf dem Bild sieht man die beiden östlichen Kopfbauten Oberer Graben 2 (Café Seeger) und Oberer Graben 8 (Café News, Tagblatt-Büro, vormals Ostschweiz-Büro), und dazwischen das quergestellte Doppelhaus Oberer Graben 4 und 6. Das Quartier ist mit Ausnahme der östlichen Hälfte der Hinterhofbebauung noch integral erhalten und schaut langsam dem 200-jährigen Jubiläum seines Bestehens entgegen!



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    14) Vermessungsplan von Fierz und Eugster 1863 mit teilweise eingetragener früherer und späterer Bebauung (Die Pfeile mit Ziffern haben nichts mit diesem Beitrag zu tun, sondern zeigen die Blickrichtungen der Abbildungen in der verlinkten Arbeit über den Blumenmarkt).

    Den Wandel, den dieser Ort um 1840 und dann 1950 nochmals durchgemacht hatte, ist in diesem Plan von 1863 dargestellt: Das 1837 abgebrochene Schibenertor und die beiden 1839 abgerissenen Salzstadel und Bauamtsgebäude sind blau unterlegt. Die altstadtseitige Bebauung mit dem 1950/52 erfolgten Neubau des Geschäftshauses 'Schibenertor' anstelle des 'Union'-Gebäudes und der Neuanlage des Blumenmarktes sind blau umrandet. Das alte Union-Gebäude folgte noch dem alten Stadtmauerverlauf, während der Neubau um 30 Grad im Gegenuhrzeigersinn abgedreht wurde, parallel zur Frontlinie von Oberer Graben 2 - 8. Links das erste 'Quartier vor dem Schibenertor'. Links unten angeschnitten ist das 1845 anstelle des Zimmmerwerkplatzes angelegte Oberer Graben-Pärklein. Die Wohnbauten sind rot, Neben- und Gewerbebauten ocker dargestellt.


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    15) Schibenertor mit Blick zum Unteren Graben, 2008.

    In entgegengesetzter Richtung sieht die Bausituation so aus: das 1852 erstellte Café Kränzlin (gelbes Gebäude, heute mit dauernd wechselnden Namen), dessen Vorgängerbau ans Schibenertor stiess, und zwischen dem Unteren Graben und Blumenbergplatz das 1899 fertiggestellte Hotel St. Gallerhof (links, im Volksmund 'Kreml' genannt, heute kein Hotel mehr).


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    16) Schibenertor mit Blick in den Unteren Graben. Beschriebene, undatierte Ansichtskarte um 1899, Verlag Guggenheim & Co. Zürich.

    Die Situation sah vor hundert Jahren fast gleich aus, ausser dass seit 1957 keine Trams mehr fahren und das 1841 errichtete und 1971 abgebrochene Grabenschulhaus im Hintergrund nicht mehr steht. Die Häuserzeile rechts ist spätestens ab 1820 anstelle der Stadtmauer (in gleicher Richtung wie das alte Union-Gebäude!) errichtet worden. Die letzten beiden Lücken wurden erst 1837 geschlossen. Man sieht, dass innerhalb zweier Jahrzehnte die Bebauung rund ums Schibenertor völlig umgekrempelt wurde, und dies noch völlig unabhängig von der 1856 eröffneten Eisenbahn und dem Bahnhof in nächster Nähe!



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    17) Das 1950/52 erstellte Geschäftshaus 'Schibenertor' anstelle des alten Union-Gebäudes an der Westseite des Oberen Grabens, 2015.


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    18) Der Unionplatz von Nordwesten mit Blick zum Oberen Graben links das alte Union-Gebäude. Ansichtskarte um 1900/10, Edition Phot. Franco-Suisse, Berne.

    Zwischen 1950 und 1952 erfolgte die Neugestaltung des Union-Platzes. Als Restfläche zwischen der spätmittelalterlichen Bebauung und der neuen klassizistischen Quartiere hatte er die typische dreieckige Form, wie auch das Oberer Graben-Pärklein. Im Hintergrund sieht man auf die kleinteilige Bebauung an der Neugasse, deren Aussenseiten zugleich die Stadtmauer bildeten. Links das alte Union-Gebäude, das zwischen 1843 und 1848 als Hotel 'Löwen' errichtet worden war und 1856/57 eine Erweiterung nach Süden (rechts) erhalten hatte. Typisch sind die vorgelagerten Grabengärten anstelle des Stadtgrabens. Der abgerundete Garten links ist derselbe wie in der Ansicht mit dem Salzstadel und Bauamtsgebäude oben. Der Neubau wurde gegenüber dem Union-Bau um 30 Grad im Gegenuhrzeigersinn gedreht, sodass er parallel zur Zeile Oberer Graben 2 - 8 (rechts angeschnitten) zu stehen kam und der Platz seine längliche, rechteckige Form erhielt.



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    19) Schibenertor mit Blick in die Bahnhofstrasse. Ungelaufene Ansichtskarte um 1897/99, ohne Verlagsangabe.

    Als letzte historische Ansicht dieses Beitrages folgt wieder der Blick in die Bahnhofstrasse entlang dem neuen Quartier mit dem Café Seeger als Kopfbau. Der Standort des Fotografen ist wiederum vor dem Café Kränzlin wie bei der Ansicht mit Salzstadel und Bauamtsgebäude und der heutigen Vergleichsansicht.

    Die Bahnhofstrasse, wie die 'Landstrasse nach Zürich' noch vor dem Bahnbau hiess, kreuzt hier noch die Bahngeleise und fand ihre Fortsetzung in der damals ebenfalls umbenannten Rosenbergstrasse. Die Trams in Richtung Westen mussten deshalb hier rechts abbiegen, wo sie den Bahneinschnitt beim Blumenbergplatz problemlos überqueren konnten, aber keine Anbindung an den Bahnhof hatten. Erst mit der 1901 eröffneten St. Leonhardsbrücke war es möglich, mit den Trams auch westlich des Bahnhofs die Bahngeleise zu überqueren, was die Fahrt durch die Rosenbergstrasse überflüssig machte. Der Bahnübergang zwischen der Bahnhof- und Rosenbergstrasse wurde zwischen 1903 und 1907 geschlossen und durch eine Fussgängerunterführung ersetzt. Die über 500-jährige Strassenverbindung zwischen St. Gallen und Zürich wurde hiermit unterbrochen. Die Ansicht ist auch für einen St. Gallen-Kenner ungewohnt, weil sie die Strasse noch ohne diese Unterbrechung zeigt.

  • Ein Rundgang um und in das östliche Quartier im Gegenuhrzeigersinn:



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    20) Bahnhofstr. 5 - 9, links angeschnitten Oberer Graben 2, 'Café Seeger'.

    Die Längszeile entlang der Bahnhofstrasse umfasst vier unterschiedlich breite Häuser, wobei das 'Seeger' den Platz von zwei Gebäuden einnimmt. Weshalb die Liegenschaften in unregelmässiger Breite angeboten und versteigert wurden, ist noch nicht bekannt. Wollte man absichtlich ein breites Angebot an unterschiedlich teuren Bauplätzen anbieten?

    Die Häuser sind durchwegs dreigeschossig, wie bei den meisten früheren Überbauungen aus dem 19. Jahrhundert. Dies ermöglichte es, dem Hausbesitzer zusätzlich zur Wohnung ein stilles Gewerbe im Haus ausführen zu können und zugleich Mietzinseinnahmen aus einer zweiten Wohnung zu generieren. Die Erdgeschosse waren durchwegs als Hochparterres angelegt. Erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden einige Erdgeschosse auf Strassen- resp. Vorplatzniveau tiefer gelegt, so beim Seeger (Oberer Graben 2), Kolosseum (Bahnhofstr. 9) und News (Oberer Graben 8). Gleichzeitig ersetzte man die Einzelfenster durch Schaufenster so auch bei Poststr. 5, wobei der Erdgeschossboden auf der ursprünglichen Höhe verblieb. Vorgärten waren vorgeschrieben inklusive der Gestaltung der Einfassungen mit einem Eisengeländer auf Steinsockel. Risalite, Erker und Dachaufbauten waren nicht gestattet, sondern nur Balkone in Fassadenmitte.




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    21) Oberer Graben 2, Bahnhofstr. 5 - 9 bei der Einmündung der Waisenhausstrasse.


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    22) Die Bahnhofstrasse Richtung Schibenertor, gleicher Abschnitt wie im oberen Bild. Rechts angeschnitten Bahnhofstr. 11 der zweiten Bauetappe der 'Quartiere vor dem Schibenertor' ab etwa 1860. 'Carte de visite' um 1875, Archiv der Ortsbürgergemeinde St. Gallen.

    Die Strasse ist hier noch unbefestigt; lediglich Gehwegbereiche könnten bereits grob gepflastert gewesen sein. Die Stützmauer links gehörte einst zum Garten des 1811 eröffneten Waisenhaus an der Rosenbergstr. 18 (1964 abgebrochen). Dieses wurde am Fuss des Rosenbergs mit einem grossen vorgelagerten Garten errichtet, der durch die 1856 eröffnete Eisenbahn entzweigeschnitten wurde. Dieser Restgarten (siehe 2. Planausschnitt im 1. Beitrag), der fortan keinen Kontakt mehr mit dem Waisenhaus hatte, blieb als Garten von Bahnhofstr. 8 bestehen, bis dieser zwischen 1934 und 1948 mit Bahnhofstr. 10 überbaut wurde. Heute erinnert nur noch der Name 'Waisenhausstrasse' an die Institution sowie die scheinbar 'schräge Lage' auch des Nachfolgebaus zur Rosenbergstrasse, die eben der Strassengeometrie noch vor dem Eisenbahnbau geschuldet ist.


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    23) Waisenhausstrasse mit Blick von der Bahnhof- zur Poststrasse.

    Die Waisenhausstrasse markiert die Grenze zwischen der ersten (links) und zweiten (rechts) Bauetappe. Wie im vorangehenden Beitrag bereits erwähnt, bewilligte der Verwaltungsrat den Baubeginn des 2. Quartiers solange nicht, bis das erste vollständig fertig gebaut war. Dies war offenbar 1843 noch der Fall. Wenn man nun die beiden quergestellten Doppelhäuser Waisenhausstr. 14/16 und 15/17 der ersten und zweiten Bauetappe vergleicht, wird man keine Unterschiede feststellen können. Es sind vier identische, spiegelbildliche Bauten. Für die genauen Baudaten bedarf es weiterer archivalischer Forschung, was hier relativ einfach sein dürfte. Der Baubeginn des zweiten Carrés wird in den späten 1850er Jahren angenommen.

    Die Waisenhausstrasse führt leicht abgewinkelt und verschoben südlich der Poststrasse weiter bis zur St. Leonhardstrasse, wo sie ein Teil der rückwärtigen Erschliessung des Webersbleiche-Carrés ab 1809 bildete.


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    24) Bahnhofstrasse 9 und Hintere Bahnhofstrasse von der Waisenhausstrasse aus Richtung Osten.

    Unmittelbar hinter den Rückfassaden der Längszeile führt die hintere Bahnhofstrasse wieder zurück zum Schibenertor und Oberen Graben. Sie trennt die Hofbauten auf der rechten Seite von den Hauptbauten ab, so wie es beim Quartier 'Webersbleiche' ab 1809 schon gehandhabt wurde.

    Gut erkennbar ist hier der sumpfige Untergrund, wie er von der nördlichen Altstadt bis zur St. Leonhards-Kirche über dem ganzen Bahnhofsgebiet anzutreffen war. Dementsprechend findet man hier noch heute einige schiefstehende Häuser. Auf dieser Aufnahme ist dies besonders gut sichtbar: Die Strasse steigt hinter Nr. 9 leicht an, erreicht hinter Nr. 7 den höchsten Punkt und sinkt dort mitsamt der östlichen Hälfte des Hauses ab. Nr. 5 hatten die Bodensetzungen am meisten zugesetzt. Im Bereich des 'Seegers' steigt die Strasse mitsamt dem Haus wieder auf das ursprüngliche Niveau an. An den Vorderseiten sind diese Setzungen nicht vorhanden, trotz der geringen Haustiefen von lediglich gut 12 m (40 Fuss!). Die Fundamentierung ist wohl vorne wie hinten gleich ausgeführt, und ob einen Bauherr die Bodensetzungen betroffen hatten oder nicht, entschied der Zufall.


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    25) Bahnhofstr. 9 'Kolosseum', Rückseite mit Treppenhaus.

    So einförmig und einfach die Häuser gestaltet sind, so weisen sie trotzdem unterschiedliche Akzente und Nuancierungen auf. Meistens sind es die um ein halbes Geschoss versetzten Treppenhausfenster und Balkone, die dem Haus seine Identität verleihen. An der eigenwilligen Fensterverteilung erkennt man, dass die Tieferlegung des Erdgeschossbodens in den 1930er-Jahren vor allem im Treppenhausbereich nicht so einfach zu bewerkstelligen war.


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    26) Äusseres Hofgässlein Richtung Norden bei der Einmündung in die Hintere Bahnhofstrasse. Rückseite von Waisenhausstr. 16.

    Die Rückseite von Waisenhausstr. 16 ist in einem denkmalpflegerischen 1A-Zustand (die Vorder- und Seitenfassade ebenfalls)! Trotz der Nüchternheit aller klassizistischen Fassaden hier gelingt es, eine ganze Reihe von architektonischen Details aufzuzählen:

    - abgesetzter Granitsockel

    - exakt positionierte Kellerfenster mit Läden

    - Haustür und Vordach (evtl. historistische Zutat?)

    - im Erdgeschoss einbruchsicherere, Fensterläden mit Füllungen, in den Obergeschossen mit Jalousien und Querleiste

    - Fensterüberdachungen am 1. Obergeschoss

    - Würfelkonsolfries an der Dachuntersicht.

    Die weissen Fensterläden - lange glaubte ich, dass dies eine 'süsse' bis kitschige Vorliebe ab den 1980er Jahren ist. Je mehr Fotos aus den 1860er bis 70er Jahren ich betrachte, desto mehr fallen mir aber hell gestrichene Läden auf. Die ursprüngliche Farbigkeit der Fassaden ist noch nicht erforscht, aber in den letzten Jahren hielt man sich an die Formulierung in den zeitgenössischen Baureglementen, dass die Fassaden 'weiss verblendet' werden sollen.

    Dem einen oderd anderen mögen diese Häuser nichtssagend bis bieder sein, und dies noch mitten in einem Stadtzentrum und nicht in irgendeinem Dorf. Sie weisen aber sehr angenehme Proportionen auf und sind sehr gut besonnt. Man muss diese Art von Bauten einfach mögen, und je länger man sich mit ihnen beschäftigt, desto mehr erkennt man ihren Wert.


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    27) Äusseres Hofgässlein Richtung Norden, links Rückseiten von Waisenhausstr. 14 und 16, rechts die Hofbauten.


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    28) Waisenhausstr. 16 und 14.

    Im Hintergrund ist die Rückseite des Geschäftshauses Poststr. 9 / Oberer Graben 12 - 16 entlang der Waisenhausstrasse zu sehen, das um 1960 die gesamte östliche Zeile des Webersbleiche-Quartiers von 1809 ersetzte. Man beachte dort auch den kleinen Brunnen vor dem Baum, von dem aus die Aufnahmen 30 und 34 gemacht wurden.


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    29) Poststr. 10, Westfassade gegen die Waisenhausstrasse.

    Nach dem Doppelhaus Waisenhausstr. 14/16 trifft man auf die Seitenfassade von Poststr. 10, dem westlichen Kopfbau der Längszeile entlang der Poststrasse. Die Bodensetzungen sind in dieser Fassade unübersehbar: Der Kellersockel verläuft etwa 25 cm abwärts. Die Erdgeschossfenster sind egalisiert, während das Gurtsims darüber wieder abfällt. Die Fenster am 1. Obergeschoss sind wieder egalisiert, während sie am 2. Obergeschoss unterschiedlich hoch angeordnet sind. Ich vermute, dass sich hier bereits während den Bauarbeiten die ersten Setzungen einstellten und man die Fensteröffnungen noch am Rohbau (Erdgeschoss massiv, Obergeschosse Fachwerk) korrigieren konnte.


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    30) Waisenhausstrasse, Blick Richtung Norden von der Poststrasse zur Bahnhofstrasse.

    Wie sehr der Verlust der Vorgärten ein ruhiges Strassenbild stört, ist hier augenfällig, indem die meisten Vorgärten Parkplätzen weichen mussten. Links im HIntergrund ist der Nachfolgebau des ehemaligen Waisenhauses, später auch Verkehrsschule, sichtbar. Er steht schräg abgedreht an der Rosenbergstrasse, die hier parallel zu den Bahngeleisen verläuft, was den Zusammenhang des Quartiers und dem Waisenhaus noch vor dem Bahnbau zeigt.

  • Kurze Frage an Riegel : hatte das Schibernertor einen runden Turm?

    Als ich vorhin die von Zeno verlinkte Broschüre zur Stadtbefestigung München angeschaut habe, kam dort nämlich ein "Scheibnertor" vor, das wohl so hieß, weil der Turm rund war (scheibenförmiger Grundriß). Da fiel mir ein, daß "Schibenertor" ja ebenfalls "Scheibnertor" bedeuten könnte, nur in allemannischer Aussprache - davor war mir diese Bezeichnung ziemlich rätselhaft, denn von einer Ortschaft "Schibenen" hat man noch nie gehört.

  • hatte das Schibernertor einen runden Turm?

    Nein, es hatte einen quadratischen Grundriss mit einem quadratischen Zwingerhof davor. Ich hatte vor wenigen Tagen in diesem Beitrag eine Abbildung, einen Grundrissplan sowie einen weiterführenden Link gepostet.

    Der Name kommt von der Familie 'Scheibener'oder 'Schibener', die in St. Gallen 1468 das Bürgerrecht erhielt und deren letzter männlicher Nachkomme mit diesem Namen 1965 starb. Auch das Spisertor erhielt seinen Namen von der ebenfalls ausgestorbenen Familie 'Spiser'.

    Man war auch versucht, den Namen mit den im Gebiet vor dem Schibenertor aufgestellten Scheiben für die 'Büchsenschützen' (Gewehrschützen) in Verbindung zu bringen, was aber eher als unwahrscheinlich angesehen wird. Das Schützenhaus stand etwa an der Kreuzung St. Leonhard-Strasse / Kornhausstrasse. Die Prachtsbauten, die dort heute stehen, werden irgendwann auch in diesem Strang erscheinen. Man sieht, das Quartier ist architektonisch und städtebaulich sehr vielseitig, nicht nur langweilige Biedermeierhäuschen. ;)


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    31) St. Leonhard-Strasse mit der eigenwilligen Jugendstilfassade des Hauses 'Oceanic', Nr. 20.


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    32) Kornhausstrasse beim Bahnhofplatz, 2008.


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    33) St. Leonhard-Strasse bei der Kreuzung mit der Kornhausstrasse, 2008. Links im Hintergrund der Turm der Hauptpost am Bahnhofplatz.

  • Riegel : danke für die Aufklärung bzgl Schiberner- und Spisertor. Daß Tore auch mal nach Familien benannt werden, war mir so nicht geläufig. - Die älteren Häuser in der Leonhard- und Waisenhausstraße geben so etwa das Bild wieder, das ich als Kind von der Schweiz hatte. So sah für mich "Schweiz" aus.

  • Nun folgen noch Fotos der südlichen Zeile des Gevierts entlang der Poststrasse. Die weiteren Quartiere werde ich nicht mehr so ausführlich wie dieses vorstellen, aber hier handelt es sich um die substantiell und denkmalpflegerisch am besten Erhaltenene der Überbauungen in der Stadt aus der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sämtliche vierzehn Bauten bestehen noch; einzig die östliche Hälfte der Hofbebauung fehlt heute wegen des Druckereigebäudes komplett.


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    34) Poststr. 10 mit Brunnen an der Kreuzung Waisenhausstrasse und Poststrasse.

    Die Mehrheit der Gebäude ist heute weiss gestrichen, was dem originalen Zustand entsprechen dürfte. Eine Frage mache ich bei der Farbe der Fensterläden: die Mehrheit ist heute grau gestrichen, was der städtischen Denkmalpflege geschuldet ist. Hier mache ich persönlich ein Fragezeichen betreffend der Historizität und auch Ästhetik.

    Besonders gefällt mir aber die Farbgebung von Poststrasse 10 - keine grelle Farbe der Fensterläden, aber auch nicht farblos. Auch die beweglichen Jalousien sind in der richtigen Dimension ausgeführt, nicht so wie beim rechten Nachbarhaus mit feinen und unbeweglichen Lamellen. Am Erdgeschoss vermute ich ursprünglich geschlossenen Läden mit Füllungen, wie man sie noch an einigen Stellen im Quartier antrifft.


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    35) Poststr. 10.



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    36) Poststr. 10 - 2 und Oberer Graben 8 Richtung Osten.

    Man erkennt hier die starken Setzungen, die von Osten nach Westen auf eine Länge von 90 m schätzungsweise zwischen 50 und 80 cm betragen. Vor allem Poststr. 8 (zweites Haus von links) hat es in der Breite stark erwischt, während sich Nr. 10 vor allem von hinten nach vorne geneigt hat. Eigenartigerweise fliesst der heute hier kanalisierte Irabach von Westen nach Osten.

    Häusersetzungen gibt es noch viele in St. Gallen, vor allem auch in der Altstadt. Bei bauhistorischen Untersuchungen kann man jedoch oft feststellen, dass die hauptsächlichsten Setzungen im Verlauf des 19. Jahrhunderts stattfanden. Ob dies mit der damals begonnenen Kanalisation zusammenhing, muss hier offen bleiben.


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    37) Poststr. 8 und 6, 2022.

    Die Fotografie ist exakt frontal und horizontal ausgerichtet, damit die Setzungen beobachtet werden können. Die Kämpfer der erneuerten Fenster liegen jeweils horizontal. Die Erdgeschossfenster von Nr. 6 sind in den 1990er Jahren vergrössert und horizontal ausgerichtet worden. Leider hatte man die Stürze nicht treppenartig in der Schräge der Fassade angeordnet.

    Immerhin existieren hier noch die Vorgärten, wenn auch mit steriler Bepflanzung, weissem Kies und aufdringlichen Chromstahlhandläufen.


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    38) Grabenpärklein mit Poststr. 10 - 4, 2008.

    Die Zeile bildet auch einen räumlichen Abschluss für das Grabenpärklein, das 1845 anstelle des Zimmerwerkplatzes angelegt wurde. Hier zeigt sich die Parkanlage mit ihrer schlichten Gestaltung der 1940er/50er Jahre, wie sie damals praktisch allen Grünanlagen zuteil wurde, nachdem man die üppigeren Gestaltungen des Historismus nicht mehr als zeitgemäss empfand. Seit den letzten Jahren besteht hier eine üppige Bepflanzung mit Wildpflanzen, die Ton in Ton aufeinander abgestimmt sind.


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    39) Poststr. 4 - 10 (von rechts). 1910 gelaufene Ansichtskarte, Verlag und Sammlung unbekannt.

    Dem Grabenpärklein werde ich einen eigenen Beitrag widmen, doch hier sei vorerst mal auf die beiden Bäume wohl aus der Entstehungszeit des Pärkleins 1845 sowie auf die Jugendstileinfassung des Brunnenbeckens hingewiesen.


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    40) Oberer Graben 8 bei der Einmündung der Poststrasse in den Oberen Graben.

    In diesem Gebäude befanden sich viele Jahrzehnte der Sitz und die Redaktionsbüros der in den 1990er Jahren eingegangenen Tageszeitung "Die Ostschweiz". Nachher wurde das Gebäude vom "Tagblatt" übernommen, das hier noch eine Zeitlang die Redaktionsbüros für die lokalen Nachrichten beliess, diese später aber an den Stadtrand verpflanzte... Das Erdgeschoss wurde in den 1950er Jahren für ein Ladengeschäft tiefer gesetzt und die Fassaden in Schaufenster aufgelöst. Der Vorplatz wurde in jüngster Zeit durch ein allzu rustikales Steinmäuerchen eingefasst.

    Zur Farbgebung: in den 1980er Jahren wurde das Gebäude gelb gestrichen; die Fensterläden fehlten. Das linke Nachbargebäude erhielt einen Rosa-Anstrich mit braunen Fensterläden, wie man es an der Rückseite noch sehen kann. Nach vielen Bemühungen durch die Denkmalpflege konnten vor einigen Jahren wenigstens wieder Fensterläden angebracht und die Fassaden weiss gestrichen werden, hingegen wurden Fenster mit völlig falscher Versprossung eingesetzt. Die starke Kontrastierung in der Farbgebung passt nicht zum Klassizismus.

    Hier befand sich bis 1950 ein Engpass, der als Torsituation zum Unionplatz fungierte. Die Strasse war hier nur zweispurig, mit Trottoirs und Gartenzäunen auf beiden Seiten. Gegen das Schibenertor öffnete sich der Platz zu einem Dreieck, weil das damals abgebrochene Union-Gebäude im Gegensatz zum heutigen Schibenertor-Geschäftshaus um 30° im Uhrzeigersinn abgedreht war.


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    41) Oberer Graben bei der Einmündung der Poststrasse, hier auch der Beginn des Unionplatzes. Im Hintergrund das 1950 abgebrochene Union-Gebäude. 1901 gelaufene Ansichtskarte, Verlag Guggenheim, Zürich.

    Die damalige Situation ist heute kaum mehr vorstellbar, seit die Strasse hier auf sechs Spuren mit Mittelinsel ausgebaut wurde und der 'Platz' eine Rechteckform erhielt (vergleiche den dritten und vierten Planausschnitt im ersten Beitrag rechts oben). Zur Orientierung: die Person mit dunklem Rock auf der Ansichtskarte würde auf der nächsten Ansicht auf der linken Kante der Fussgängerinsel stehen. Die Vorgarteneinfassung von Oberer Graben 8 ist links noch knapp zu sehen.


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    42) Oberer Graben zwischen Poststrasse und Schibenertor. Links Oberer Graben 8 - 2, rechts Geschäftshaus 'Schibenertor', 2008.

    Von einem Platz, der heute eher einem kurzen Boulevard gleicht, kann leider nicht mehr gesprochen werden. Der grösste Teil wird heute von fünf Fahrspuren belegt, und anstelle des Grabengartens vor dem Union-Gebäude wurde eine baumbestandene Mittelinsel mit Parkplätzen angelegt. Links mündet die hintere Poststrasse ein, wo man wieder zur Hofbebauung gelangt.


    Ergänzung:

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    Google maps-Ansicht von Süden nach Norden, 2020. https://club.baukultur.pictures

    Rechts oben sieht man das beschriebene Quartier vor dem Schibenertor. Links davon folgt das Geviert der zweiten Etappe (mit der abgeschrägten Ecke) aus den 1850er Jahren. Beide Südzeilen entlang der Poststrasse stehen in einer exakten Flucht. Trotzdem kann man auf der Flugaufnahme mit blossem Auge die Senkung der rechten Zeile bemerken! Selbst die Senkung beim Nachbarhaus des Seegers (oberhalb des Flachdachs des Druckereigebäudes) an der hinteren Bahnhofstrasse ist bemerkbar.

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    43) Hintere Poststrasse Richtung Westen. Rechts das Druckereigebäude der einstigen "Ostschweiz" anstelle der ursprünglichen Hofbebauung.

    Abgesehen von den Vorgärten hatten die Häuser dieses Quartiers nie Gärten, wie dies bei den Überbauungen 'Frongarten' und 'Bleicheli' schon der Fall war. Die beiden Hinterstrassen und die drei Querverbindungen werden vor allem für die Parkierung genutzt. Links ist an der Rückseite von Poststr. 4 die rosa Farbgebung aus den 1980er Jahren geblieben. Im Hintergrund der Turm des Rathauses und weiter hinten jener der Fachhochschule.


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    44) Hintere Poststrasse auf Höhe der westlichen Hofbebauung.

    Im Gegensatz zur östlichen Hofbebauung ist die westliche noch vollständig erhalten, wenn auch in unterschiedlichem Erhaltungsgrad. Mit ihren zwei Geschossen ordnet sie sich der Hauptbebauung unter und nimmt so den Wohnungen im 1. Obergeschoss weniger Licht weg. Eine gutgemeinte Renovation von Hintere Poststr. 6 hat eine Aufwertung bedeutet, aber mit dem unebenen Verputz und der Farbgebung samt Dekorationsmalerei ein bisschen zu viel Italianita hierher gebracht.


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    45) Hintere Poststrasse mit Blick zurück zum Oberen Graben und Geschäftshaus 'Schibenertor'.

    Die Ausrichtung des Geschäftshauses 'Schibenertor' auf das Quartier anstatt auf die Altstadt wird auch hier offensichtlich.


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    46) Inneres Hofgässlein. Links das Druckereigebäude und im Hintergrund die Rückseite des Cafés Seeger.

    Bei der Rückseite des Cafés Seeger sind an den Treppenhausfenstern die Setzungen sehr augenfällig! Das Druckereigebäude von etwa 1950 nahm die Volumetrie und die geometrische Formensprache der Vorgängerbebauung auf und fällt dadurch nicht negativ auf.


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    47) Oberer Graben 4 und 6, Rückseiten gegen das Innere Hofgässlein.

    Oberer Graben 4 und 6 sind zwei völlig identische, aber gespiegelte Bauten, die schon früh vereinigt wurden. Deshalb fehlt heute beim linken Risaliten die rückwärtige Eingangstür. Die beiden Häuser wurden wohl nicht einmal gleichzeitig erstellt, wenn man einen Artikel im Buch "St. Gallen; Antlitz einer Stadt" (Verlagsgemeinschaft St. Gallen, 1979) liest: Alt-Stadtarchivar E. Ziegler beschreibt dort die Vorgeschichte beider Bauten, die Versteigerung der Böden, den Rückfall des einen Bodens an die Stadt wegen Nicht-Bebauens innert nützlicher Frist und die neuerliche Versteigerung. Wie ich mich an den Artikel erinnere, fand dies alles zwischen 1840 und 1843 statt.


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    48) Oberer Graben 4, Rückseite mit Treppenhausrisalit.


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    49) Hintere Bahnhofstrasse Richtung Westen.

    Am Ende des Inneren Hofgässlein erreicht man wieder die hintere Bahnhofstrasse und sieht von hier aus auch ins zweite Carré. Die Setzung von Strasse und Häusern ist auch hier wieder allgegenwärtig. Die Abschrägung im Hintergrund wurde durch den Bau der 1856 eröffneten Eisenbahn verursacht, der mitten in die Planungsphase und Ausführung des zweiten Quartiers fiel.

  • Nun hat mich die westliche Hofbebauung doch noch näher interessiert und ich ging deswegen gestern kurz vor Mittag auf eine kleine Fototour. Sie begann beim rot gestrichenen Häuschen Hintere Poststr. 6, das ich wegen der 'zu viel Italianita' kritisierte. Wenn man die restlichen Hofgebäude, die alle noch aus den 1840er Jahren stammen, gesehen hat, versteht man meine Kritik.


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    50) Hintere Poststr. 6, an der Ecke zum Mittleren Hofgässlein.

    Am meisten gefallen mir an diesem Gebäude die Fensterläden mit Einschubleisten und eingeschobenen Lamellen - selten in dieser Kombination anzutreffen und wohl noch aus der Bauzeit. Das Dach weist noch wie die meisten Bauten des Hofgevierts die originale Biberschwanzeindeckung auf.


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    51) Mittleres Hofgässlein.

    Beim Mittleren Hofgässlein sind die beiden mittleren Bauten zurückversetzt, sodass hier ein kleiner Platz entstand, dessen Mitte einst von einem Brunnen besetzt war. Beim Neubau des Druckereigebäudes gegenüber wurde diese Einbuchtung leider eliminiert und der Brunnen entfernt.


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    52) Mittleres Hofgässlein.

    Die Erdgeschosse werden heute noch vorwiegend zum Einstellen von Fahrzeugen benutzt, wobei noch einige alte, von Hand zu öffnende Garagentore auffallen. Die Obergeschosse beherbergen meistens Wohnungen. Die ursprüngliche Nutzung letzterer ist mir unbekannt, denn laut den zeitgenössischen Bauvorschriften für dieses Quartier waren Wohnungen in den Hinterhäusern nicht erlaubt.


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    53) Hintere Bahnhofstr. 5.

    So wie die Häuser beider Längszeilen unterschiedlich breit sind, so sind es auch die Hinterhäuser. Hintere Bahnhofstr. 5 nahm von Anfang an die ganze Nordseite des Hofgevierts in Anspruch und gehörte zu Bahnhofstr. 9. An der Gegenseite zur Hinteren Poststrasse waren drei Häuschen angeordnet, wovon Nrn. 6 und 8 beim Umbau um 1990 vereinigt wurden.


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    54) Äusseres Hofgässlein.

    Im Gegenlicht schwer zu fotografieren war die westliche Seite des Hofgevierts - einfach mit Geduld, bis eine Wolke die Sonnenstrahlen dämpfte. Auch hier erkennt man grösstenteils noch die originale Bausubstanz. Die beiden bodentiefen Öffnungen im Obergeschoss zeigen, dass hier einst Waren gelagert wurden.

    Ich war überrascht, in der Hofbebauung noch so viel ursprüngliche Bausubstanz angetroffen zu haben, liegt doch das Quartier zwischen Marktplatz und Bahnhof in einem Gebiet mit grossen wirtschaftlichen Interessen. Diese Lage geriet der Hofbebauung der ab 1809 überbauten Webersbleiche zum Nachteil, indem diese 2006 einem grossen Geschäfts- und Wohnhaus (Manor) Platz machen musste. Allerdings war dort nur noch ein kleiner Teil der ursprünglichen Hofbebauung aus den Jahren zwischen 1809 und 1860 vorhanden.

  • Die genaue Erstellungszeit des zweiten Gevierts, das sich von der Waisenhausstrasse bis zur Schützengasse erstreckt, ist noch nicht erforscht. Ein Beschluss des Verwaltungsrats (heute Stadtrat) von 1843, dass mit dem Bau des Quartiers auf dem ehemaligen Obstmarkt (gemeint ist das zweite Geviert) erst begonnen werden soll, wenn das erste Quartier fertig gebaut sei, gibt einen Hinweis darauf. Der ursprüngliche Bebauungsplan von 1840 erfuhr aber aufgrund des Eisenbahnbaus in den 1850er Jahren noch eine Anpassung, indem die nördliche Längszeile abgeschrägt und die hintere Bahnhofstrasse in die hintere Poststrasse anstatt geradeaus in die Schützengasse geführt wurde. Den Schlusspunkt der Bauarbeiten bildete wohl die Fertigstellung der Zeile entlang der Poststrasse 1860.


    Ein Rundgang um und in das westliche 'Quartier vor dem Schibenertor' im Gegenuhrzeigersinn:


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    55) Bahnhofstr. 11, Kopfbau des zweiten Carrés bei der Einmündung der Waisenhausstrasse.

    Der Kopfbau Bahnhofstr. 11 an der Ecke zur Waisenhausstrasse nimmt in seiner Mittelachse bereits die Abwinklung der Eisenbahnlinie auf. Dort ist an der Rückseite (s. Abb. 88 und 89) auch das leicht trapezförmige Treppenhaus (nicht zugängliches Kleinod!) angeordnet. Die Fassaden zeigen nicht mehr den 'biedermeierlichen' Klassizismus wie im ersten Geviert, sondern bereits frühe Elemente des Historismus (genutetes Erdgeschoss, Lisenen, gekuppelte Fenster, stark reliefierte Brüstungsplatten, keine Fensterläden). Das Haus wurde 1994/95 aussen und innen vorbildlich restauriert und die Balkone in moderner Form rekonstruiert (siehe "Denkmalpflege und Archäologie im Kanton St. Gallen 1986-1996", S. 207f.).


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    56) Bahnhofstr. 11, Mittelpartie mit Hauseingang und rekonstruiertem Balkon in moderner Form.


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    57) Bahnhofstr. 11 - 19. Im Hintergrund rechts der Turm der Hauptpost am Bahnhofplatz.

    Um die folgenden Bauten ist es weniger gut bestellt. Ladeneinbauten, Aufstockungen, Balkonersatz und Purifizierungen haben zu einem unruhigen Bild geführt. Besondere Störfaktoren sind die ganze Fassade von Nr. 13 und der Erker an Nr. 17. Die Erdgeschossöffnungen mindestens der Nrn. 15 und 19 schlossen ursprünglich mit Rundbögen ab; bei Nr. 17 waren es gekuppelte Fenster mit zwei Rundbögen. An den Mittelachsen aller Bauten der Zeile sassen Balkone, wobei jener von Nr. 15 (als einziger Erhaltener) einst bis an die Hauskanten stiess.


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    58) Bahnhofstr. 17.


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    59) Bahnhofstr. 17 nach dem ersten Umbau um 1910, 1929. Fotograf O. Rietmann, Kantonsbibliothek St. Gallen.

    Die Fassade von Nr. 17 wurde gleich zweimal grundlegend verändert: bei einem ersten Umbau um 1910 durch den Einbau grosser Schaufenster und den Aufbau von zwei Dachlukarnen im Stil der Nürnberger 'Wohndacherker', und um 1940/50 durch die Anbringung des völlig deplazierten Erkers anstelle des ursprünglichen Balkons samt Purifizierung der Fassade. Bei der Betrachtung der Fotografie von 1929 fällt auf, dass die Wandflächen der Obergeschosse eine Backsteinstruktur zeigen. Es handelt sich wohl nicht um eine nachträgliche Aufdopplung mit Riemchen oder Blechschindeln, denn dann würden die Fenstergewände nicht so weit vorstehen wie bei einer verputzten Fassade. Auch gegenüber den Nachbarfassaden ist kein Vorsprung erkennbar. Auf einer Stadtansicht von 1889 ist das Haus ebenfalls dunkler als die Nachbargebäude, was darauf hinweisen könnte, dass es bereits seit seiner Erbauung um 1855/60 eine Sichtbacksteinfassade zeigte. Damit dürfte es der erste bekannte Sichtbacksteinbau in der Stadt sein (nebst einiger Fachwerkbauten in der Altstadt bis gegen Ende des 16. Jahrhunderts). Bisher galt die 1863/64 auf dem heutigen Bahnhofplatz erstellte Kornhalle als erster Sichtbacksteinbau (1885 auf die Kreuzbleiche verlegt und als Militärmagazin weiterverwendet. 1981 für den Autobahnanschuss Kreuzbleiche abgebrochen).

    Edit.: Auf einer vom Rosenberg aufgenommenen Fotografie des Bahnhofquartiers um 1865 ist die Fassade ebenfalls dunkler als jene der Nachbarbauten (Abb. bei Röllin S. 373).


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    60) Bahnhofstr. 19, Rest. Brauwerk, vormals Dufour.

    Ebenfalls unvorteilhafte Umbauten erfuhr auch Bahnhofstr. 19. Bei einem ersten Umbau um 1940/50 entfielen die Balkone und Rundbögen der Erdgeschossfenster. Beim kürzlich erfolgten Umbau gab es keine Rückführungen; im Gegenteil wurden die Erdgeschossfenster bis auf den Boden hinab vergrössert und die Fensterläden grasgrün gestrichen.

    Ist es Zufall, dass ausgerechnet die beiden diagonal gegenüberliegenden Eckbauten beider Quartiere (Oberer Graben 8, Bahnhofstr. 19) - zudem noch in Besitz alteingesessener St. Galler Institutionen - denkmalpflegerische Zangengeburten sind?


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    61) Bahnhofstr. 11 - 19 von Westen. 1937 gelaufene Ansichtskarte, Verlag und Sammlung unbekannt.

  • Der Ostabschluss gegen das Bahnhofpärkli und den Bahnhofplatz sieht seit wenigen Jahren ein bisschen kahl aus, indem im Zusammenhang mit der Neugestaltung des Bahnhofplatzes auch die Parkanlage ein neues Gesicht erhielt. Die Kahlheit wird auch unterstrichen, weil heute alle drei Fassaden weiss gestrichen sind:


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    62) Bahnhofpärkli zwischen der Bahnhofstrasse und Schützengasse, Einmündung der hinteren Poststrasse heute. Von links nach rechts: Bahnhofstr. 19, Schützengasse 12, Poststr. 18.

    Bis vor wenigen Jahren präsentierte sich der Anblick noch so:


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    63) Bahnhofpärkli zwischen der Bahnhofstrasse und Schützengasse, Einmündung der hinteren Poststrasse, 2008.

    Nun hat es mich interessiert, ob diese Bäume noch von der ursprünglichen Parkanlage stammten. Hierzu eine Fotografie von etwa 1875, die vom nicht mehr existierenden Balkon des Restaurants Dufour resp. neuerdings Braukeller aus aufgenommen wurde (links angeschnitten auch der Balkon von Schützengasse 12):


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    64) Kreuzung Schützengasse - Poststrasse mit der Eidgenössischen Post, heute Hotel Walhalla, aufgenommen vom Balkon des Restaurants Dufour aus südwärts. Ganz rechts angeschnitten die ehemalige, 1863/64 errichtete Kornhalle auf dem heutigen Bahnhofplatz (s. im vorangehenden Beitrag über 'Bahnhofstr. 17'). Carte de visite um 1870/75, Fotograf J. U. Locher, Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde St. Gallen.

    Das Pärkli war eine Restfläche des Bahnareals, welche die 'Vereinigten Schweizerbahnen' nicht mehr benötigten und Ende 1860 an die Stadt verkaufte. Es wurde wohl erst 1863/64 angelegt, nach dem Bau des Simonquartiers von 1860/61, in welches die Eidgenössische Post als Mieterin einzog (heute teilweise vom Hotel Walhalla belegt). Das Simonquartier umfasst den Häuserblock zwischen Poststrasse, Schützengasse, Merkur- und Kornhausstrasse. Nach einem Grossbrand 1955 besteht das Geviert heute nur noch teilweise aus der ursprünglichen Bebauung. Möglicherweise diente der künftige Platz des Pärklis zuerst als Umschlag- und Lagerplatz für Baumaterialien für den Postneubau und die Kornhalle, und konnte deshalb erst mit Verzögerung als Parkanlage eröffnet werden. Auf dem Stadtplan von 1863 ist die Anlage noch nicht eingezeichnet (das Simonquartier und das Bahnhofpärkli erhalten dereinst eigene Beiträge).

    Der auf der Fotografie sichtbare Parkweg mündete genau gegenüber der Einmündung der Hinteren Poststrasse in die Schützengasse ein, was aber mit dem vor etwa zehn Jahren gefällten Baumbestand nicht übereinstimmte.


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    65) Das Bahnhofpärkli, von der Schützengasse aus Richtung Bahnhofplatz gesehen. Im Hintergrund von links nach rechts Hotel Walhalla, 2. Eidgenössische Post (erbaut 1885/87, ab 1927 Rathaus der Stadt, 1977 abgebrochen), 3. Eidgenössische Post (Hauptpost, mit Turm, erbaut 1911/14). Aufnahme nach 1928 (1926 Abbruch des Daches über dem Risalit des Rathauses, 1928 Durchstich der Bahnhofstrasse, s. unten). Unbekannter Verlag und unbekannte Sammlung.

    In den Jahren zwischen 1910 und 1916 erfuhr das Tramnetz einen Ausbau auf Doppelspur, und teilweise fanden auch Streckenverlegungen statt. Ab 1911 fuhren die Trams nicht mehr durch die Poststrasse, sondern vom Schibenertor geradeaus in die Bahnhofstrasse und danach mitten durch das Bahnhofpärkli zum alten und neuen Bahnhof. Dies veranlasste die massive Verkleinerung und Neugestaltung der Parkanlage. Der Baumbestand wurde damals vollständig erneuert, wie man auf der Ansichtskarte sehen kann. Es ist somit dieser Baumbestand, der nach ziemlich genau 100 Jahren kürzlich gefällt worden ist.


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    66) Poststrasse 23 - 27, Geschäftshäuser und Hotel 'Walhalla' anstelle des 'Simonquartiers'. Das Bahnhofpärkli nahm bis 1911 auch dieses Teilstück der Bahnhofstrasse samt Tiefgarageneinfahrt vor dem Rathaus ein.

    Der Durchstich für die Tram- und Trogenerbahnlinie wurde 1928 auch für den Bus- und Autoverkehr als Verlängerung der Bahnhofstrasse ausgebaut.

    Nun wieder zurück zum westlichen 'Quartier vor dem Schibenertor':


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    67) Schützengasse 12, 2008.

    Schützengasse 12 wurde um 1980 als erstes Haus beider Quartiere nach denkmalpflegerischen Gesichtspunkten saniert, allerdings ohne Wiederanbringung von Fensterläden. Ursprünglich waren solche vorhanden. Im beginnenden Historismus kann man aber einen Wechsel von Fensterläden zu Sonnenlamellenstoren beobachten, wie solche beim etwa gleichzeitig entstandenen Simonquartier und der Zeile Poststr. 12 - 18 (ebenfalls von Simon) angewendet wurden. Der Balkon am 2. Obergeschoss (als Ausnahme gegenüber dem Baureglement) ist wohl ursprünglich, aber sicher vor 1889 entstanden.


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    68) Schützengasse südwärts mit Blick zur Poststrasse und St. Leonhard-Strasse, 2008. In der Mitte der Kopfbau Poststr. 18 mit dem typischen 1980er Jahre-Anstrich in braun. Rechts die Überbauung Webersbleiche von 1809, deren Fertigstellung bis etwa 1860 dauerte.


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    69) Hintere Poststrasse bei der Einmündung in die Schützengasse Richtung Oberer Graben. Ganz hinten das Geschäftshaus 'Schibenertor'.


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    70) St. Gallen von Südwesten. Aquatinta um 1830 von D. A. Schmid und R. Iselin. Kantonsbibliothek St. Gallen.

    Das Blatt gehört zu einer Serie von grossformatigen Ansichten aus allen vier Himmelrichtungen auf die Stadt. Die Abbildung hat einen sehr genauen Detaillierungsgrad, was durch mehrere baugeschichtliche Forschungsarbeiten bestätigt werden konnte, und es bietet ein Bild des Bauzustands aller planmässig erstellten Quartiere westlich der Altstadt zwischen Halbzeit und Fertigstellung bis 1860:


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    71) Ausschnitt aus der Ansicht oben. Legende:

    2 Häuserzeile am Oberen Graben 1802

    3 Überbauung Frongarten 1807

    4 Überbauung Bleicheli 1808

    5 Überbauung Webersbleiche 1809 (bis um 1860)

    6 Quartiere vor Schibenertor 1840 (bis um 1860)

    7 Simonquartier 1860/61.

    Nebst dem bereits gezeigten Aquarell mit dem Bauamtsgebäude und Salzstadel vor dem Schibenertor zeigt diese Stadtansicht den Baubestand unmittelbar vor Inangriffnahme der Bauarbeiten zu den beiden Quartieren. Man erkennt hinter der Ziffer '6a' das grosse Halbwalmdach des Bauamtsgebäudes und rechts den langgestreckten Salzstadel. Diese wurden ja vorsorglich 1839 für den geplanten Quartierneubau abgebrochen und teilweise auf den Schellenacker versetzt (nicht mehr vorhanden, wohl anstelle des Elektrizitätswerks der Stadt an der Steinachstrasse und der früheren Gaskessel).

    Links von der Ziffer '6b' erblickt man die Reitschule (und darüber das Waisenhaus an der Rosenbergstrasse), die in der Literatur über die Stadt praktisch nirgends vorkommt. Sie ist auf dem Zuber-Plan von 1828 noch nicht vorhanden, hingegen auf dem Plan zur baulichen Entwicklung der Stadt 1830 eingezeichnet (letzterer wurde zusammen mit gleichartigen Stadtplänen von 1860 und 1880 für die Landesaustellung 1883 in Zürich rückwirkend geschaffen und weist deshalb mehrere Fehler auf; Genaueres siehe hier). Sie stand an der Stelle der heutigen Bahnhofstr. 19 und Schützengasse 12.

    Auf einem Plan der Davids- und Webersbleiche von 1818 ist die Reithalle zwar bereits eingezeichnet. Dieser Plan entstand wohl anlässlich der Umwandlung von Bleicheböden in Pflanzgärten nach den Hungerjahren 1816/17 (erstellt durch Rietmann und Kreis, Geometer aus Egnach, Abb. bei Röllin S. 361, Stadtarchiv). Ihr Fehlen auf dem Zuber-Plan von 1828 darf wohl als Fehler angesehen werden.

    Offenbar wurde sie noch nicht zusammen mit den Bauamtsgebäuden und dem Salzstadel 1839 abgebrochen, denn auf einem Variantenplan für die Linienführung der Eisenbahn kurz nach 1850 ist sie noch vorhanden. Sie wurde demnach erst für die Ausschreibung der Bauplätze für das östliche Carré in den 1850er Jahren abgebrochen und fand auf dem Unteren Brühl (heute Museumsquartier und Stadtpark) eine neue Aufstellung. 1890 wurde sie dort definitiv abgebrochen, weil sie die Eingangsfront des 1877 eröffneten Museums (heute Kunstmuseum) verdeckte. Erst dreizehn Jahre nach der Museumseröffnung konnte die bereits in den Vorprojekten vorgesehene Anlage mit gusseisernem Springbrunnen realisiert werden, nachdem 1889 bei der Kaserne die heutige Reithalle ihren Betrieb aufnahm.


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    72) Die Reitschule am neuen Standort an der Ecke Blumenaustrasse / Museumstrasse 1890. Heute Parkanlage mit Gauklerbrunnen zwischen Kunstmuseum und Stadttheater. Links angeschnitten der Eckbalkon des Kirchhoferhauses Museumstr. 27. Fotograf O. Rietmann, Kantonsbibliothek St. Gallen.

  • Das Bahnhofpärkli ist nicht schöner geworden. Es ist nur zu hoffen, dass die neuen Bäume bald größer werden. Dass die Hecke und offenbar einige Sitzbänke gleich mit entfernt wurden, ist unverständlich. Ökologisch ist es auch nicht. Und was ist mit der Skulptur am rechten Bildrand? Auch einfach weggeschafft?

  • Ich bin mit dem 2018 neugestalteten Bahnhofpärkli auch nicht ganz so glücklich. Jetzt fungiert es eher als Biergarten, was bei der ursprünglichen Bahnhofplatzneugestaltung noch nicht vorgesehen war. Die Initiative dazu kam von Seiten des Betreibers des 'Brauwerks', das gleichzeitig umgebaut wurde, und der Brauerei Schützengarten als Eigentümerin des Lokals. Jetzt ist das Pärkli einfach ein Kiesplatz mit drei langegzogenen Baum- und Strauchrabatten:

    - Stadtplan 2018 (durch Anklicken des mittleren Kreissymbols links kommt man zu den historischen Stadtplänen und Flugaufnahmen)

    - Flugaufnahme 2021

    - Abb. 62 und 66 (beide Mal die gleiche Rabatte März und Juni 2022).

    Die Rabatten haben leider diese aktuell hoch in Mode stehenden amorphen Formen mit überstumpfen Winkeln und müssen natürlich mit Eisenbändern eingefasst sein. Anders geht es heute ja nicht mehr... Der Brunnen von 1911 und das 1971 enthüllte 'Mädchen in Bronce' von Bildhauer Wilhelm Meier fanden im Pärkli eine Wiederaufstellung. Auch die Zahl der Sitzgelegenheiten wurde erhöht. Heute ist das Pärkli ein Aufenthaltsort verschiedenster Personengruppen und wird rege benutzt.

    Weitere Links:

    - Bewegte Bahnhofpärkli-Geschichte in 'St. Galler Nachrichten' mit zwei Abbildungen

    - Hinz und Kunz: Das Bahnhof-Palaver Sehr lesenswerte Artikelreihe in 'Saiten' (ganz unten mit einer Abbildung der Mädchenfigur)

    - Schreitende mit erhobenen Armen Hintergründe und auch über das für die Plastik gestandene Modell in 'artlog.net'.

    'Stadtgrün' (früher Gartenbauamt) leistet in der ganzen Stadt sehr gute Arbeit. Insbesondere schenkt es der Auswahl der Pflanzenarten eine sehr hohe Aufmerksamkeit, die in die Richtung einheimischer Pflanzen und sonstwelcher Wildpflanzen - aber schön arrangiert - geht. Vor allem das vor etwa zehn Jahren neu bepflanzte Grabenpärkli hat es mir angetan:


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    73) Grabenpärkli 2017.


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    74) Grabenpärkli 2017.

  • Die südliche Zeile entlang der Poststrasse erstellte Architekt Bernhard Simon auf eigene Rechnung. Zusammen mit Felix Wilhelm Kubly und Johann Christoph Kunkler gehörte er zu den drei tonangebenden Architekten in St. Gallen im 19. Jahrhundert. Alle waren in irgendwelchen Baukommissionen vertreten, hatten ein politisches Amt inne, sassen in Wettbewerbsjurys, wurden mit Überarbeitungen von 1. Preisen aus Architekturwettbewerben beauftragt... kurzum, die Baulobby. Es war aber eine Baulobby, die gute und wegweisende Architektur und Städtebau an erste Stelle setzte. Der überwiegende Teil ihres Werkes steht heute unter Denkmalschutz.


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    75) Die Schützengasse bei der Kreuzung mit der Poststrasse. Rechts der Kopfbau Poststr. 18 mit der braunen Farbgebung aus den 1980er Jahren, 2008. Hier stand bis 1839 die auf den Brühl versetzte Reithalle (vgl. m. Abb. 70 - 72).

    Simons Häuserzeile ist die einzige der beiden Carrés, die vollständig in regulärer Form errichtet wurde. Alle andern haben verschieden breite Grundstücke und leicht unterschiedliche Fassadengestaltungen (bei der Südzeile des ersten Carrés, Poststr. 2 - 10, war ursprünglich auch eine Einheitlichkeit vorhanden, die wahrscheinlich auf die Hand Kublys zurückgeht. Allerdings sind auch dort die Häuser unterschiedlich breit. Die Frage nach einem oder mehreren Bauherren ist noch nicht erforscht).

    Über den Bau der Zeile findet man im Buch "St. Gallen. Stadtveränderung und Stadterlebnis im 19. Jahrhundert" (Peter Röllin, Verlagsgemeinschaft St. Gallen, 1981) viele Hinweise und vor allem Quellenangaben. Es ist das Standardwerk über das St. Gallen im 19. Jahrhundert schlechthin, weil es nicht nur städtebaugeschichtliche und kunsthistorische Aspekte beschreibt, sondern auch soziale und politische Hintergründe und Umwälzungen und auch den Einfluss des technischen Fortschritts und neuer Verkehrswege miteinbezieht. Für diesen Strang war mir dieses Buch eine grosse Hilfe.

    Für die Fundamentierungsarbeiten 1859 sollen zeitweise 150 Arbeiter "verschiedenster Konfessionen und Nationen" gleichzeitig beschäftigt worden sein, und das emsige Treiben auf der Baustelle soll Massen von Schaulustigen angezogen haben. Das Fundament wurde aus einer "mehrere Schuh hohen Cementlage" erstellt. 1860 war das Werk aus zwei grösseren Kopf- und zwei kleineren Zwischenbauten bereits vollendet und erschien fortan auf vielen Souvenirabbildungen und Fotos:


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    76) Poststrasse 12 - 18 Richtung Westen. Links die Überbauung Webersbleiche, im Fluchtpunkt der 1856 eröffnete erste Hauptbahnhof. Carte de visite um 1870/75, Fotograf J. U. Locher.

    An dieser für St. Gallen erstmals uniformen Zeilenbebauung mit weltstädtischem Gepräge erkennt man die Aufenthaltsorte Simons in Paris (1839) und St. Petersburg (1839 - 1854), wo er eines der führenden Architekturbüros inne hatte. 1854 kehrte er aus gesundheitlichen Gründen in die Ostschweiz zurück und fand in St. Gallen einen Ort, in welchem gerade ein Bauboom seinen Anfang nahm.


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    77) Poststr. 18 mit der aktuellen weissen Farbgebung und purifizierten Fassaden, 2022.

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    78) Poststr. 18 und 16 im ursprünglichen Zustand mit enger Pfeilerstellung im Erd- und Mezzaningeschoss sowie umlaufendem Balkon, vor 1897. Sammlung Zumbühl, Kantonsbibliothek St. Gallen.

    Eine Gegenüberstellung von Fotos vom gleichen Standpunkt aus offenbart die Veränderungen, welche die ganze Zeile in den 160 Jahren ihres Bestehens hinnehmen musste. Vor allem beim Umbau um 1910, der alle vier Bauten in gleichem Masse betraf, fanden folgende Änderungen statt:

    - Absenkung des Erdgeschoss-Fussbodens (und wahrscheinlich auch des Mezzanins)

    - Verlust der Vorgärten, Verbreiterung der Poststrasse

    - Zusammenfassung von jeweils zwei und drei Fensterachsen am EG / Mezzanin zu grossen Schaufenstern

    - Abbruch des durchlaufenden Balkons und Ersatz mit Einzelbalkonen.

    Alle diese Veränderungen nimmt man heute zwar nicht negativ wahr, aber für die Architekturgeschichte St. Gallens - insbesondere des Übergangs vom Spätklassizismus zum Historismus - wäre die teilweise Rückgewinnung des originalen Bildes dennoch wünschenswert.

    Später fanden noch Purifizierungen am 2. und 3. Obergeschoss statt:

    - Purifizierungen an den Fenstergewänden am 1. und 2. Obergeschoss

    - Entfernung der Konsolen an der Dachuntersicht.

    Die Purifizierungen an den Obergeschossen haben eine Angleichung an die klassizistischen Nachbarbauten aus den 1840er Jahren gebracht, weshalb man diese Vereinfachungen trotz Bildvergleichs kaum wahr nimmt.


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    79) Poststrasse 18 - 12 nach dem Umbau der beiden Sockelgeschosse um 1910. 1915 gelaufene Kunstansichtskarte, ohne Verlagsangabe, unbekannte Sammlung.

    Beim Umbau der beiden Sockelgeschosse blieben die Fassaden an den oberen beiden Geschossen noch unberührt. Deren Purifizierung fand offensichtlich zu einem späteren Zeitpunkt statt.


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    80) Poststrasse 18 - 12.



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    81) Poststrasse in Richtung Westen mit dem Rathausturm anstelle des ersten Bahnhofs von 1856.



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    82) Die Neugasse um 1865/70 und die Poststrasse um 1870/75. Buchseite aus dem erwähnten Buch Röllins.

    Wie diese Grossbaustelle auf die Bewohner der Altstadt und deren Vorstädte gewirkt haben muss, hat Röllin in seinem Buch auf eindrückliche Art mit einem Bildpaar dargestellt: oben die Neugasse mit dem damals noch weitgehend erhaltenen spätmittelalterlichen Baubestand und unten in unmittelbarer Nachbarschaft die neue Poststrasse!


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    83) Poststr. 14 und 12, Bereich der Setzungen.

    Die Hauseingänge der beiden mittleren Bauten Nr. 14 und 16 zeigen noch die ursprüngliche Breite aus der Bauzeit mit korbbogigem Abschluss und Kreisverzierung darüber. Bei den Kopfbauten finden sich noch je eine ursprüngliche schmale Achse an den Schmalseiten. Dass die "150 Arbeiter" und auch die "mehrere Schuh hohe Cementlage" dem sumpfigen Untergrund nicht die erforderliche Tragfähigkeit abgewinnen konnten, zeigt sich im Bereich der Haustrennwand zwischen Nr. 12 und 14, wo sich kurz nach der Bauzeit bereits Setzungen einstellten.


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    84) Poststr. 12 an der Nahtstelle (Waisenhausstrasse) zum ersten Geviert mit Poststr. 2 - 10.


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    85) Poststrasse 12, östliche Schmalseite mit ursprünglicher Sockelgliederung in der Mitte.

    Das ursprüngliche Niveau des Vorgartens befand sich wenig unterhalb des Übergangs vom dunklen zum hellen Sockel. Aus Gründen der Symmetrie und der ungeraden Anzahl Fensterachsen konnte sich auch hier eine schmale Fensterachse aus der Bauzeit erhalten.


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    86) Waisenhausstr. 15 und 17.

    Den östlichen Abschluss des Gevierts bilden die Häuser Waisenhausstr. 15 und 17, die baugleich mit den gegenüberliegenden Bauten Nr. 14 und 16 sind (vgl. m. Abb. 28 und 30). Nr. 17 wird durch die ausgebaute Balkon- und Verandenanlage zusätzlich beeinträchtigt. Wenn man bedenkt, dass bis vor wenigen Jahren die Fassade in einem kräftigen Erdrot gestrichen war und die Fenster keinerlei Sprossen aufwiesen, muss man um den heutigen Zustand trotz fehlender Fensterläden und asphaltiertem Vorplatz schon fast froh sein.


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    87) Waisenhausstr. 17 und Bahnhofstr. 11, dazwischen die Hintere Bahnhofstrasse.

    Auch wenn die Balkonanlage von Waisenhausstr. 17 nicht mehr dem originalen Zustand entspricht, lässt sich hier gut beobachten, wie die 1994/95 neuzeitlich interpretierten Balkone von Bahnhofstr. 11 mit dem historischen Bestand harmonieren (s. auch Abb. 55 u. 56).

  • Der Vergleich des heutigen Zustands der Poststraße mit der historischen Situation 1860 ist erbärmlich. Vor allem der fehlende Fensterschmuck und der Verzicht auf den umlaufenden Balkon wirken sich sehr negativ auf die Bestandsbauten aus. Hinzu kommen die Fenster.

    Also, ich würde für die Rekonstruktion des Erbauungszustands.