Gedanken zum Leipziger Baugeschehen
Es wollte nicht Frühling werden in Leipzig. Der Mai blieb kühl und unwirtlich. Eine wehmütige hilflose Stimmung lag über der Stadt. Rote Rosen, hinter die Absperrgitter geworfen, konnten das Unausweichliche nicht mehr ändern. Doch sie waren Zeichen stummen Trotzes. Zuerst brach unter dem Druck der Detonationen das spätgotische Hallendach in sich zusammen. Dann wurden die Sprengsätze in der filigranen Fassade der Universitätskirche ihrer unheilvollen Aufgabe gerecht. Lange hingen die bräunlichen Staubwolken in der Luft. Sie gaben Kunde über eine Stadtzerstörung, deren Ausmaß in jenem Jahr 1968 kulminierte. Der Abbruch des Renaissancebaus Deutrichs Hof im gleichen Jahr war der Schlussstein jener fatalen Entwicklung. Doch nur vorerst schien die Abrissbirne von nun an im Stadtzentrum Leipzigs zu schweigen. Der Verfall der Vorstädte aus dem 19. Jahrhundert erreichte eineinhalb Jahrzehnte später ein derartiges Ausmaß, dass die Stadt nun in weiten Teilen ihr Gesicht verlor. Die Brachflächen wurden durch monotone Plattenbauten ersetzt. Nicht nur im Stadtbild, auch sprachlich vollzog sich dieser Wandel. Die hilflose Abrisspolitik wurde durch Euphemismen verschleiert. Aus Baudenkmälern bzw. Gründerzeithäusern wurden Abbruchhäuser. Das Wüten der Abrissbagger nannte man Umgestaltung.
Nach dem demokratischen Neubeginn im Herbst 1989 konnte die wenige Monate später folgende Volksbaukonferenz einen Abrissstopp erwirken. So wie in den folgenden Jahren Gründerzeitfassaden ihr Grau gegen Farbenpracht eintauschten, so schien damit auch die unheilvolle Staubschicht, die seit dem Jahre 1968 wie ein Stigma auf der Stadt lastete, zu verschwinden. Und doch rüttelten engagierte Leipziger im Jahre 1996 erstmals die Presse auf: „Chance der behutsamen Erneuerung vertan“. Was war geschehen? In der Altstadt waren zu jenem Zeitpunkt bereits Dutzende Baudenkmäler der Renaissance- und Barockzeit sowie späterer Bauperioden entkernt, manche sogar vollständig abgerissen worden. Die wenigen nach dem Kriege erhalten gebliebenen Passagen, für die Leipzig einst berühmt war, wurden bis auf die Mädlerpassage tiefgreifend verändert und überformt und somit ihrer geschichtlichen Identität beraubt. In Baulücken wuchsen gesichtslose, austauschbare Blöcke, fernab von Leipzig an einem Reißbrett entstanden und durch Tastendruck am Computer in jeder beliebigen Stadt einsetzbar. Der Hauptbahnhof wurde zum Konsumtempel umgebaut, ein mehrstöckiges Parkdeck sollte die einmalige Hallenkonstruktion optisch entwerten. Die Bürger Leipzigs protestierten, doch ihr damaliger Oberbürgermeister stand nicht hinter ihnen, er stand auf der anderen Seite. Ein Jahr nach dem oben genannten Aufruf in der Zeitung fiel die Entscheidung zum Bau eines 30 Meter hohen Betonquaders in Mitten der Altstadt.
Doch was hier geschah, waren keine augenblicklichen Verfehlungen oder Irrwege, es waren Planungen, die bereits Jahre zurücklagen und nun schrittweise verwirklicht wurden. Das Leitbild der autogerechten Stadt gewann in Leipzig wieder Fuß zu fassen. Es rückte erstmals deutlich ins Bewusstsein der Leipziger, als im Februar 1999 der Stadtrat den Bebauungsplan der Friedrich-Ebert-Straße beschloss und damit dem Abriss historischer Bauten den Weg ebnete. Das herausragendste Gebäude war das Wohnhaus der Frauenrechtlerin Henriette Goldschmidt. Trotz internationaler Proteste rückten im März 2000 die Abrissbagger an. Einem schlechten Gewissen gleich waren zuvor Teile der Fassade geborgen worden. Man versprach, diese irgendwann einmal in irgendeinen Neubau zu integrieren. Waren nicht auch schon 1968 von Deutrichs Hof Fassadenteile konserviert und der Wiederaufbau bereits auf der DDR-Bauausstellung in Ostberlin 1987 angedacht worden? Beide Gebäude sind unwiederbringlich aus dem Stadtbild verschwunden und wohl bald auch aus dem kollektiven Gedächtnis. Heute zieht an der Stelle des Goldschmidt-Hauses ein graues Asphaltband entlang, der Raum wirkt öde und kahl. Nur vereinzelt stehen einige Plattenbauten, des Weiteren eine verunglückte Lückenschließung aus den 90er Jahren sowie einige kurz vor dem Zusammenbruch stehende Häuser des 19. Jahrhunderts, wie beziehungslose Solitäre in der monotonen Stadtlandschaft herum.
Es sind die über die Jahre tröpfchenweise fließenden Fördermittel, die diesen Prozess schleichend anmuten lassen, doch in der Zusammenschau ist die Bilanz schon jetzt ernüchternd.
Fassadenausschnitt der klassizistischen Kleinen Funkenburg aus dem Jahre 1850
Kaum sind die Schutthaufen des Goldschmidt-Hauses abtransportiert, deutet sich wenige hundert Meter weiter schon das nächste Drama an. Eine der noch kompaktesten Ausfallstraßen Leipzigs, die Jahnallee, weist Zeugnisse verschiedenster Bauepochen auf. Im stadtinneren Teil dominiert eine zurückhaltende Wohnbebauung aus den 50er Jahren, die auf die Monumentalarchitektur der 30er Jahre Bezug nimmt, im etwas weiter westlich gelegenen Abschnitt dann eine komplett erhaltene, teilweise sogar noch vorgründerzeitliche Bebauung; in der Mitte eine platzartige Erweiterung; die Kanten des Areals zwar lückenhaft, doch lädt dieser filigrane Raum die Augen des in die Innenstadt strebenden Betrachters noch ein letztes Mal zum Verweilen ein, bevor die Straße abrupt an Breite gewinnt und sich die Silhouette der Innenstadt dem Ankommenden eröffnet. Die sensibelste Kante dieses Areals ist ein Bauwerk aus dem Jahre 1850, von denen es aus jener Epoche in Leipzig so viele nicht mehr gibt. Andere deutsche Großstädte können überhaupt keine Denkmäler aus jener Zeit vorweisen. Doch genau dieses Gebäude, Kleine Funkenburg genannt, steht einer breiten autobahnartigen Trasse im Wege. Schon im Juni 2004 gewinnen die Diskussionen an Schärfe, da es den Verdacht gibt, dass rechtliche Entscheidungsspielräume in Leipzig ungewöhnlich breit ausgelegt werden. Wie zur Sprengung der Universitätskirche 1968, als die Universität ein Jahrzehnt zuvor selbst den Anstoß zum Abbruch lieferte, sind es auch diesmal die Leipziger Behörden, die willfährig dazu beitragen, die Identität ihrer eigenen Stadt zu vernichten. In der Leipziger Volkszeitung heißt es dazu: „Aktennotizen legen in der Tat den Verdacht nahe, dass die Denkmalschützer des Rathauses ihren Kollegen im Stadtplanungsamt einen großen Gefallen erwiesen haben: Trotz mehrfacher Nachfragen des Dresdner Landesamtes für Denkmalspflege hielten sie den Antrag auf Abriss der Kleinen Funkenburg auf ihren Schreibtischen zurück; auch als die Dresdner ihnen ohne Akteneinsicht ein Veto zuschickten, entdeckten sie das Schriftstück erst, als die gesetzlich vorgeschriebene Einspruchsfrist bereits verstrichen war. Der Widerspruch war dadurch offiziell ,verfristet’ und konnte deshalb verwaltungsintern als Zustimmung gewertet werden – der Weg zum Abbruch der Kleinen Funkenburg war frei.“ Auch heißt es weiter, dass der damalige Leipziger Planungsbeigeordnete die Denkmalsschützer der Stadt Leipzig angewiesen hätte, die Weichen auf Abriss zu stellen. Der 18. Juni 2004 schließt den Kreis zu den Ereignissen des Jahres 1968. Der Stadtrat stimmt mit überwiegender Mehrheit dem Abriss der Kleinen Funkenburg zu.
Der Herbst des Jahres 2004 beginnt spätsommerlich warm, als am 1. Oktober 2004 für die Bevölkerung völlig überraschend Abbrucharbeiten an einem der herausragendsten Leipziger Wohnhäuser der Gründerzeit in der Karl-Heine-Straße 30 beginnen. Ohne Vorankündigung, einer Nacht- und Nebelaktion gleich, verschwindet das Bauwerk innerhalb eines Tages. Die Bürger sind entsetzt, stehen auf der Straße, beschimpfen die Bauarbeiter, doch rechtlich scheint alles in Ordnung: „Wir haben eine Abbruchgenehmigung, es ist alles korrekt“, lässt der städtische Wohnungsbaukonzern LWB, dessen Posten sich die Politiker im Rathaus mit Neuleipzigern teilen, in der Leipziger Volkszeitung verlauten. Anders dazu ein Mitarbeiter der Landesdenkmalbehörde in Dresden im Internet: „Der von der LWB gewünschte Abbruch wurde von uns mehrfach abgelehnt, und statt dessen wurden Sicherungsmaßnahmen gefordert. ... Die nun vom Amt für Bauordnung und Denkmalpflege ergangene Abbruchgenehmigung erfolgte ohne die gesetzlich vorgeschriebene Beteiligung des Landesamtes für Denkmalpflege. Auch die Untere Denkmalschutzbehörde der Stadt war nicht beteiligt. Es handelte sich auch nicht um eine Abbruchverfügung wegen akuter Einsturzgefahr. Die Abbruchgenehmigung ist demnach eindeutig gesetzeswidrig erteilt worden. Die Eile, mit der der Abbruch unmittelbar nach Erhalt der Genehmigung vollzogen wurde ... spricht dabei ihre eigene Sprache. Man wollte verhindern, dass es durch Protest zu einer Verzögerung kommen könnte. Schließlich gibt es auch keinen Nachweis über den tatsächlichen Gefährdungszustand und die bei Abbrüchen übliche Fotodokumentation.“
Blick auf die Kleine Funkenburg aus einer Seitengasse
Der Abriss des Gebäudes Karl-Heine-Straße 30 bringt das Fass zum Überlaufen. Engagierte Bürger Leipzigs und 15 Vereine organisieren sich in einem Dachverband, der mehr Mitsprachrecht in der Stadtgestaltung erwirken will. In der Presse bekommt „das große Häusersterben“ nun eine Öffentlichkeit. Ein Drittel der Leipziger Gründerzeitsubstanz ist unsaniert und damit perspektivisch vom Verfall bedroht; und 400 Gebäude sind bereits jetzt akut gefährdet und können einstürzen. Im Gegensatz dazu ist die Kleine Funkenburg von guter Bausubstanz, war bis vor kurzer Zeit noch bewohnt. Für eine Alternativvariante des Ausbaus der Jahnallee steht auch ein Investor bereit, der das Haus sanieren würde. Zwei Tage vor dem Weihnachtsfest genehmigt das Regierungspräsidium den Abriss: „Da es sich bei der Kleinen Funkenburg nicht um ein Kulturdenkmal überregionaler Bedeutung handelt, überwogen die von der Stadt Leipzig verfolgten Ziele zur verkehrlichen Ertüchtigung der Jahnallee“. In der Leipziger Volkszeitung äußert sich der Geschäftsführer der LWB, Christoph Beck, noch einmal zum Abriss des Gebäudes Karl- Heine- Straße 30: „Eine Stadt verändert sich, und man muss auch Neues zulassen. Wenn wir das nicht tun, gibt es künftig keine Denkmäler aus unserer Zeit. Bei der Karl-Heine-Straße 30 glaube ich, dass die Ecke durch den Abbruch gewinnt, wenn die Nachnutzung des Geländes vernünftig organisiert wird“. Der Baubeigeordnete Dr. Engelbert Lütke Daldrup kündigt an, ein Notsicherungsprogramm für insgesamt 30 bis 50 besonders stattbildprägende Häuser aufzulisten. 30 bis 40 Gründerzeithäuser sollen dagegen jedes Jahr abgerissen werden: „Wir können nicht jedes Haus am Bahndamm erhalten“. Inzwischen tritt das Stadtforum Leipzig mit einem Grundsatzpapier, das für einen behutsamen Stadtumbau wirbt, an die Öffentlichkeit. Es fordert die „Stadtschrumpfung“ im wörtlichen Sinne. Damit ist ein konzentrischer Rückbau der Stadt von außen nach innen gemeint. Nur so wären einschneidende Verluste in den Denkmalsbestand und an urbaner Qualität zu vermeiden.
Mitte Januar sind in der Presse erneute Vorwürfe gegen die Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft LWB. Privateigentümer werfen dem Wohnungsbaukonzern vor, die Häuser lieber verfallen zu lassen als zu verkaufen, um Konkurrenten den Start zu erschweren.
Im Februar 2005 gelingt es dem Ökolöwen durch eine Klage, einen vorrübergehenden Baustopp in der Jahnallee zu erreichen. Das Schicksal der Kleinen Funkenburg scheint vorerst aufschoben. Gespräche mit dem Ökolöwen, einer Organisation, die ihre Wurzeln im demokratischen Herbst 1989 hat, spielen für die Verantwortlichen im Rathaus keine Rolle. Dr. Engelbert Lütke Daldrup lässt sich in der LVZ vom 8. März 2005 vernehmen: „Der Kontakt (mit dem Ökolöwen) hat lediglich den Zweck, den Ökolöwen klar zu machen, dass ihre Klage auch die Offenlegung des Elstermühlgrabens gefährdet“ ... und abschließend: Es gebe „keine Vergleichsverhandlungen irgendwelcher Art“. Ein möglicher Kompromiss wird auch vom Oberbürgermeister der Stadt, Wolfgang Tiefensee, abgelehnt.
Am 14. März 2005 widmet die Leipziger Volkszeitung der Kleinen Funkenburg eine ganze Seite. Eine Fotomontage legt dar, welch tiefgreifende Änderungen der Abriss für das Bauensemble hätte. Wenn einst der Erinnerungskitsch mit historischen Postkarten oder Stahlstichen blüht, die Leipziger wehmütig ihrer Altstadt nachtrauern, dann bleibt jetzt wenigstens festzustellen, dass spätere Ausflüchte, wie „ich habe es nicht gewusst“ oder „ich habe das mir nicht vorstellen können“, niemals akzeptiert werden können.
Es ist Wahlkampfzeit im Frühjahr 2005. Der Posten des Oberbürgermeisters steht zur Disposition. Viele Leipziger werten die Nachrichten aus dem Rathaus als ein Entgegenkommen. 500 Gründerzeithäuser sollen auf eine Liste gesetzt werden, zuvor öffentlich diskutiert und ausgewählt, um schnell zu handeln. „Bei den übrigen ist etwas mehr Zeit“, sagt Dr. Lütke Daldrup. Doch wie viele sind die übrigen? Sind es die restlichen 2500? Im großen Wahlkampfforum im kleinen Saal des Gewandhauses am 30. März 2005 kommt auch das Thema „Funkenburg“ zur Sprache. Auf die Frage „Was verstehen sie unter Basisdemokratie?“ antwortet der zur Wiederwahl angetretene Oberbürgermeister Tiefensee: „Demokratie heißt, unterschiedliche Meinungen zu diskutieren und in einem oft langwierigen Prozess nach einer Lösung zu suchen.“ Zeitgleich weist das Bundesverwaltungsgericht die Eilanträge des Ökolöwen zum Ausbaustopp der Jahnallee zurück. Nochmals fordern die Ökolöwen den Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee auf, die Einwände der Anwohner ernst zu nehmen und die Alternativplanungen zu prüfen. Nochmals tritt das Stadtforum an den Oberbürgermeister heran und fordert eine öffentliche Veranstaltung zum Thema „Funkenburg“, auf der sich die Stadtverwaltung konkret mit den Alternativplanungen auseinandersetzt.
Das Frühjahr 2005 zeigt sich für die Jahrezeit zu kalt. So müde wie der Wahlkampf anläuft, so erschlafft scheinen sich auch die Leipziger dem nicht mehr beeinflussbaren Schicksal ihrer Stadt hinzugeben. 100 Männer, Frauen und Kinder demonstrieren einen Tag vor der Oberbürgermeisterwahl am 9. April 2005 vor dem noch bestehenden ältesten Gebäude des Waldstraßenviertels. Einige blockieren kurzzeitig eine Straßenbahn. Innerhalb weniger Minuten ist die Polizei vor Ort. 100 Abrissgegner – von 500.000 Leipzigern!
Erschlafft durch die fehlenden basisdemokratischen Einflussmöglichkeiten bleibt die Motivation der meisten Leipziger zum Protest aus. Dies gilt nicht nur für die Kleine Funkenburg. Verlorenen gegangenen Baudenkmalen wird trotzdem intensiv und wehmütig hinterhergetrauert. Bereits heute ist die Bücherflut vom „guten alten Leipzig“ mit vergilbten Schwarzweißpostkarten fast unheimlich. Fast monatlich erscheinen neue Werke, die in der vermeintlich guten alten Zeit ständig herumrühren. Doch Chancen, durch politisches Engagement oder wie bei fehlenden Einflussmöglichkeiten nun in Leipzig durch notwendigen zivilen Ungehorsam der Arroganz der Potentaten die Zähne zu zeigen, bleiben aus. Den Wahlsonntag nutzen die meisten Leipziger für Privatdinge. Noch nie war die Wahlbeteiligung so niedrig. Selbstherrlich tönen einige Lokalpolitiker über das fehlende Demokratieverständnis der Bevölkerung. Erstaunlicherweise befindet sich unter denjenigen, die mit erhobenem Zeigefinger die Leipziger über Demokratie belehren, auch der Amtsvorgänger von Wolfgang Tiefensee, Herr Dr. Hinrich Lehmann- Grube. Sein Wirken um das Parkdeck im Hauptbahnhof ist den Leipzigern noch in Erinnerung...
Die Trauer über den Abriss städtebaulicher Identität soll den Leipzigern auch durch die Umwertung der Begriffe gemildert werden. Gründerzeithäuser bzw. Baudenkmäler werden in der Öffentlichkeit zunehmend als „Abrisshäuser“ oder „Ruinen“ bezeichnet. Bagger und Betonkugeln reißen nicht mehr ab, sie gestalten um. Der Chef des Chemnitzer Stadtplanungsamtes Börris Butenop lässt sich in der Leipziger Volkszeitung mit den Worten „belanglose Dutzendware aus der Gründerzeit“ zitieren. Und wer wolle denn in Gründerzeithäusern, die an Schnellstraßen stehen, noch wohnen? Also weg damit! Wie kommen aber die Schnellstraßen eigentlich vor die Gründerzeithäuser? - Das wird nicht diskutiert.
Am 21. April versuchen Mitglieder des Ortskuratoriums Leipzig und der Deutschen Stiftung für Denkmalschutz die Stadträte durch eine Informationskampagne für den Erhalt der Kleinen Funkenburg zu gewinnen. Stadträtin Ines Handschick stellt einen Eilantrag, um das Thema auf die Tagesordnung zu nehmen. Der inzwischen wiedergewählte Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee sieht dagegen keine Eilbedürftigkeit. Aspekte, die nicht bereits in der Abwägung der Argumente berücksichtigt worden wären, erkenne er nicht, wird Tiefensee in der Leipziger Volkszeitung zitiert. Eines der aktivsten Mitglieder des Stadtforums Leipzig, der ehemalige Baudezernent Nils Gormsen, beklagt dagegen, dass die vom Verein und namhaften Architekten ausgearbeiteten Alternativvarianten, die den Erhalt des Gebäudes vorsehen, niemals mit dem obersten Stadtplaner diskutiert werden konnten.
Am 18. April 2005 beginnen offiziell die Bauarbeiten in der Jahnallee. Am 29. April erscheint in der Presse die Nachricht, dass in der Kleinen Funkenburg Malereien aus dem Jahre 1850 entdeckt wurden. Diese seien kulturhistorisch nahezu einmalig. Ein Abrisstermin der Kleinen Funkenburg ist noch nicht bekannt. Währenddessen veranstaltet das Stadtforum Leipzig ein Kolloquium zum Erhalt historischer Bausubstanz. „Die gegenwärtige Vergabepraxis von Fördermitteln im Rahmen des Stadtumbau-Ost-Programmes und die damit verbundenen finanziellen Anreize sind einer der Hauptgründe für die Vernichtung von Baudenkmalen“, so der Sprecher des Stadtforums. In der LVZ heißt es: „Allerdings bestehe seitens der Staatsregierung noch immer keine Bereitschaft, die auf das Schleifen von Gebäuden ausgerichtete Förderpolitik zu ändern“. Auch ohne viele Worte kam diese Haltung durch den Vertreter des Landes Sachsen zum Ausdruck. Während der Podiums-Diskussion Anrufe von seinem Mobiltelefon entgegennehmend, verließ er schließlich vorzeitig die Diskussionsrunde, ohne die sichtlich verwunderten Anwesenden über sein Verschwinden in Kenntnis zu setzen. Die Leipziger blieben unter sich.
Die ersten Maitage bescheren den Leipzigern sommerliche Temperaturen. Inzwischen ist der innere Teil der Jahn-Allee schon Baustelle. Das emsige Treiben rund um die Kleine Funkenburg ist für das erste Maiwochenende ausgesetzt. In der nahen Gustav-Adolf-Straße kreischen vergnügt Kinder auf dem Fußweg. Wann waren in dieser sonst lärmenden, dröhnenden und autoabgasgeschwängerten Straße jemals Kinder zu hören? Das warme Frühlingswetter beflügelt Wunschträume einer verkehrsberuhigten Stadt. Weg mit den verstaubten Nachkriegsplanungen der autogerechten Stadt der 50-er und 60-er Jahre – in die Schublade damit! Warum könnten nicht Konzepte konsequenter Verkehrsberuhigung, wie in Amsterdam oder Antwerpen erfolgreich praktiziert, Vorbildwirkung für Leipzigs Stadtplaner haben, so dass Leipzig eine lebenswerte Stadt bleibt?
In Privatinitiative bringen zwei Leipziger Ärzte und ein Architekt ein Transparent aus Bettlaken genäht an der Fassade der Kleinen Funkenburg an. „1968 Uni-Kirche – 2005 Funkenburg“ ist mit roter Farbe darauf gesprüht. Zu diesem Zeitpunkt ist schon das Treppenhaus, welches die Stadtverwaltung versprach zu erhalten, zu einem Drittel ausgebaut. Es soll zu unbestimmter Zeit in irgendeinem Neubau Verwendung finden. Ist es wieder das schlechte Gewissen, was zu solchen Aktionen führt wie etwa beim Goldschmidt-Haus oder bei Deutrichs Hof?
In diesen Tagen startet die Bildzeitung eine Aktion zum Erhalt des Gebäudes. Jeden Tag erscheint ein Artikel, und Leipziger Bürger werden zitiert, die ihren Protest gegen den Abriss bekräftigen. Eine vorgedruckte Postkarte, an Herrn Dr. Lütke Daldrup gerichtet, liegt in zahlreichen Geschäften der Stadt Leipzig aus. Bürger sollen diese an das Rathaus schicken und somit ihren Protest zum Ausdruck bringen. Hinter vorgehaltener Hand berichtet man später, das gerade einmal einhundert solcher Karten im Rathaus eingegangen seien; 100 bei 500.000 Einwohnern!
Noch immer ist der Abrisstermin unklar, und eine Meldung in der Bildzeitung vom 12. Mai 2005 gibt der aufkeimenden Hoffnung eine reale Grundlage. Die Sprecherin der Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft LWB, Veronika Schliebe, lässt verlauten, dass sich ein ursprünglich festgesetzter Abrisstermin am 19. Mai 2005 nach hinten verschieben würde. Somit stehen auch die Chancen nicht schlecht, das Thema nochmals bei der Stadtratssitzung am 18. Mai 2005 vorzubringen. Doch völlig unerwartet rückt am Nachmittag des 17. Mai, also wenige Stunden vor der Stadtratssitzung, und zwei Tage vor dem kürzlich bekannt gegebenen und ursprünglich geplanten Abrisstermin, der sich ja nach hinten verschieben sollte, ein Abrissbagger an und beginnt sein Zerstörungswerk am Giebel der Kleinen Funkenburg. Doch nach kurzer Zeit schweigt die Abrissmaschinerie. Ines Handschick vom Bürgerverein Bachviertel und darüber hinaus Stadträtin beantragte vor Gericht eine einstweilige Verfügung, um den Abriss zu stoppen. Das Gericht lehnt den Antrag jedoch ab. Am Abend des 17. Mai fehlen nur unwesentliche Teile des Giebels der Kleinen Funkenburg. In diesem Zustand wäre das Gebäude noch zu retten.
Der Abriss der Kleinen Funkenburg im Progress
18. Mai 2005, Tag der Stadtratssitzung. Die Leipziger Volkszeitung erinnert den Oberbürgermeister und seinen Beigeordneten an die Versprechungen gegenüber den Bürgern hinsichtlich anderer städtebaulicher Verfehlungen, wie den „Milchtöpfen“ auf dem Augustusplatz, deren Korrektur bis heute aussteht. Es heißt: „Die Funkenburg-Befürworter wollten vor allem eins erreichen: dass die Planer ernst nehmen, wie sich Bürger ihre Stadt wünschen. Der Abriss lässt vermuten, dass diese Botschaft nicht verstanden wurde.“
Das Loch in der Giebelwand wächst zunehmend, ohnmächtig stehen Leipziger Bürger am Bauzaun. Fotoapparate, Video- und Filmkameras dokumentieren die letzten Tage des spätklassizistischen Gebäudes und dann plötzlich noch einmal ein letztes Aufbäumen, um das unvermeidliche Schicksal herauszufordern! Zwanzig mutige Leipziger Bürger besetzen die Baustelle und bringen den Bagger zum Schweigen. Auf einem Plakat ist zu lesen: „Leipziger gegen den Abriss – für den Erhalt der Kleinen Funkenburg“. Schwer angeschlagen, aber immer noch zu retten, so präsentiert sich die Kleine Funkenburg am Abend des 18. Mai 2005. Aus dem Stadtrat kommt die Meldung, dass das Thema „Funkenburg“ in die Ausschüsse weitergeleitet wurde. Können vollendete Tatsachen geschaffen werden, solange ein politischer Diskussionsgegenstand noch in der Schwebe ist?
Am darauffolgenden 19. Mai stehen die Denkmalschützer ab 7.00 Uhr auf der Baustelle. Jetzt sind es nur noch sechs engagierte Leipziger - 6 von 500.000! Eine Stunde später ist die Polizei vor Ort und löst den friedlichen Protest nach weiteren zwei Stunden auf. Der Tag verläuft ungestört.
Der 20. Mai verläuft ungestört. Ein Drittel des Hauses ist verschwunden. Der Bagger frisst sich von der Seite in das historische Gemäuer hinein.
Der 21. Mai verläuft ungestört. An diesem Sonnabend steht nur noch die Hälfte des Gebäudes. Anwohner informieren die Polizei über die Bauarbeiten, um sich somit über die damit verbundene Lärmbelästigung am Wochenende zu beschweren. Die Polizei lässt verlauten, dass im Falle der Funkenburg der Baufirma das Recht eingeräumt wurde, sogar sonntags und auch in der Nacht zu arbeiten.
„Was empfinden sie dabei?“ Diese Frage richtet sich an den Bauleiter, der vor den Absperrgittern den Fortgang der Arbeiten kontrolliert. „Für mich ist das nur ein Job wie jeder andere.“ Im weiteren Gespräch teilt er mit, dass er gar nicht gewusst hatte, um was für ein Gebäude es sich hier handeln würde. Während krachend Gebälk und Ziegelsteine auf den immer größer werdenden Schutthaufen stürzen, ein Bauarbeiter Wasser versprüht, um die Staubentwicklung zu minimieren, stehen auf der anderen Straßenseite 15 Leipziger, gelegentlich diskutierend, oft schweigend; die meisten fotografieren – 15 von 500.000!
Es ist wieder Ende Mai, eine gelblich braune Staubwolke legt sich über die Umgebung. Am Bauzaun hängt noch das Protestplakat „Leipziger gegen den Abriss...“. Ein junger Mann stellt sich ans Absperrgitter und spielt – Violine! Die Arbeiten gehen zügig voran.
Am 22. Mai 2005 stehen nur noch zwei Fensterreihen des Gebäudes. Da sie noch alle drei Stockwerke erfassen, wirkt die Ruine unheimlich, wie ein Verstümmelter, der trotzig Anklage erhebt.
Am Abend des 23. Mai 2005 schauen nur noch 2 Fenster des Erdgeschosses aus den Trümmermassen hervor.
Die Leipziger Volkszeitung bringt wütende Leserbriefe. Einer vom Rathaus einberufenen Podiumsdiskussion zum Stadtumbau versagt das Stadtforum entrüstet seine Teilnahme. Während viele Leipziger ihrer Empörung Luft machen, Rücktrittsforderungen an Politiker stellen, so zeigt sich dagegen bei vielen anderen ein Phänomen, welches unserer Psyche auch eigen ist: Müssen wir erkennen, an Dingen nichts ändern zu können und doch mit diesen zu leben, so suchen wir abstruse Erklärungsmodelle, um, wie es in Fachsprache heißt, kognitive Dissonanz in Konsonanz umzuwandeln beziehungsweise unser emotional belastendes Gefühl von Ohnmacht und Schuld zu nivellieren. Wenn es denn wirklich ein Baudenkmal gewesen wäre, so hätte man es ja sicherlich schon früher saniert, lässt sich ein Bürger am Lesertelefon der LVZ zitieren. Dann kann der Abbruch ja nicht so schlimm gewesen sein! Und damit nicht genug: Eine Initiative, die unabhängig vom Baugeschehen die Straßenbezeichnung „Jahnallee“ gegen den ehemaligen regionalhistorisch wichtigen alten Namen „Ranstädter Steinweg“ ersetzen will, wird gerade von den Betroffenen abgeschmettert: „Seit die Kleine Funkenburg weg ist, hat eine Rückbenennung, für die wir anfänglich durchaus aufgeschlossen waren, keinen Sinn mehr“, so die Stimme des Bürgervereins Waldstrassenviertel in der LVZ.
Resignation, naive Konfliktbewältigung und kindlicher Trotz – typisch für die Leipziger Seele des Jahres 2005.
Das Märchenhaus in der Friedrich-Ebert-Straße
Die Staubwolke um die Funkenburg hat sich gelegt. Bürger und Medien sind verstummt. Doch Papier ist geduldig, sagt man, und auf dem Papier ist die weitere Entwicklung vorprogrammiert. Die westliche Seite der Friedrich-Ebert-Straße in der Nähe des Waldplatzes wird einer neuen Linksabbiegerspur zum Opfer fallen. Gegenwärtig stehen dort Häuser aus der Bauphase des Spätklassizismus sowie des Historismus. Die alte Klinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde in der Liebigstraße wird abgerissen. Das Jugendstilgebäude, vor wenigen Jahren aufwendig saniert, wird einem Allerweltsneubau weichen, ohne Wiedererkennungswert und ohne Leipzig- typische Charakteristika. Der Abbruch wird ebenfalls ein sich daran anschließendes Gebäude aus den späten 50er Jahren erfassen. Im Übergangsstil von stalinscher Monumentalarchitektur hin zur Moderne errichtet, ist es ein wichtiges Zeugnis der Architektur der DDR.
Auch dem Leitbild der autogerechten Stadt wird kein Abbruch getan. Um das Tangentenviereck zu verwirklichen, verschwinden im nördlichen Innenstadtbereich Gründerzeithäuser und idyllische Vorgärten an historistischen Villengrundstücken. Das schönste Haus der Friedrich-Ebert-Straße, welches der steingewordenen Fantasie eines Gaudi in Barcelona in nichts nachsteht, dieses im Volksmund der vielen Verzierungen wegen „Märchenhaus“ genannte Denkmal weicht einem grauen Asphaltband.