Anhand eines Beispiels aus St. Gallen möchte ich zeigen, wie die Baugeschichte verschwundener Gebäude erforscht werden kann. In den Strängen "Fachwerkbauten in Frankfurt a. M." sowie "Fachwerkbauten in Nürnberg" im APH habe ich schon mehrere Beispiele vorgestellt, ohne aber den Weg aufzuzeigen, wie ich zu den Ergebnissen gekommen bin. Diesen Weg möchte ich hier nun Schritt für Schritt erläutern.
2. Sammlung und Sichtung von Abbildungen
3. Planunterlagen im Bauarchiv
4. Überlegungen zur Gebäudeform und Bauweise
5. Die Fotoserie von Walter Fietz vom Juli 1958
6. Auswertung der Abbildung 20 durch Nachzeichnen
7. Rekonstruktion des Dachstuhls
8. Auswertung der Innenaufnahmen des Dachstuhls
10. Erstes und zweites Obergeschoss
12. Zusammenführung der bisherigen Erkenntnisse
13. Erster ganzheitlicher Rekonstruktionsversuch
Oft findet man in alten Familien-Fotoalben oder in losen Fotosammlungen alteingesessener Geschäfte Fotos, welche einen Stammsitz während des Abbruchs zeigen. Solche Bilder können wahre Leckerbissen für die baugeschichtliche Forschung sein, aber nur solange, als Gebäude noch von Hand abgebrochen wurden.
Ein sehr altertümliches Gebäude am Marktplatz/Bohl in St. Gallen, welches im Juli 1958 abgebrochen worden war, hatte schon lange meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ich beabsichtigte, beim jetzigen Geschäftseigentümer mal nachzufragen, ob er eventuell noch Fotos vom Abbruch des Hauses besitze. Nun kam es so, dass im Sommer 2008 das Ladengeschäft umgebaut und auf die Bauabschrankung just eine solche Fotografie projiziert wurde. Diese zeigte das 3. Obergeschoss sowie den Dachstuhl in völlig entkerntem Zustand, also nur noch mit dem übriggebliebenen Balkenskelett. Eine Nachfrage beim Geschäftsinhaber förderte noch drei weitere Ansichten zutage, welche das innere des Dachstuhles festhalten. Weitere Fotos fanden sich im Archiv der Kulturdenkmälerinventarisation des Kantons St. Gallen. Die Fotos beider Fundorte gehen auf den ersten kantonalen Denkmalpfleger des Kantons, Walter Fietz, zurück. Er war seiner Zeit weit voraus, indem er den Wert der bauhistorischen Forschung am Objekt und die Analysierung historischer Baustoffe schon in den 1960er-Jahren favorisierte. Dank seinen Fotografien war es erst möglich, fünfzig Jahre nach dem Abbruch dieses Hauses die Baugeschichte zu erforschen.
1) Der "Weinfalken" kurz nach der letzten Renovation ca. 1940 (Foto Ryser & Treuer, St. Gallen).
2) Ausschnitt aus einer Fotografie vom Abbruch des "Weinfalkens" im Juli 1958, auf Bauvorhang 2008 (Foto W. Fietz, 1958).
Mittels einer starken Ausschnittsvergrösserung hoffte ich, Licht in die Entstehungsgeschichte dieses Balkenwirrwarrs bringen zu können. Handskizzen einzelner Partien führten nicht zum erhofften Ergebnis, sodass nur noch eine komplette Durchzeichnung und anschliessende Einfärbung konstruktiv zusammenhängender Balken in Frage kam. Auch starke, jahrhundertealte Setzungen im Innern des Hauses liessen dessen geometrische Rekonstruktion nicht befriedigend aufzeigen.
Die weitere Beschäftigung mit dem Haus führte aber zur Entdeckung einer äusserst spannenden Baugeschichte, und es zeigte sich, wieviel baugeschichtliche Detailinformationen solche Abbruchfotos preisgeben können. Der Werdegang einer solchen baugeschichtlichen Erforschung eines Hauses soll hier Schritt um Schritt aufgezeigt werden.