St. Gallen - Baugeschichtliche Rekonstruktion des 1958 abgebrochenen Hauses "Zum Weinfalken" an der Metzgergasse 2

  • Anhand eines Beispiels aus St. Gallen möchte ich zeigen, wie die Baugeschichte verschwundener Gebäude erforscht werden kann. In den Strängen "Fachwerkbauten in Frankfurt a. M." sowie "Fachwerkbauten in Nürnberg" im APH habe ich schon mehrere Beispiele vorgestellt, ohne aber den Weg aufzuzeigen, wie ich zu den Ergebnissen gekommen bin. Diesen Weg möchte ich hier nun Schritt für Schritt erläutern.


    1. Situation

    2. Sammlung und Sichtung von Abbildungen

    3. Planunterlagen im Bauarchiv

    4. Überlegungen zur Gebäudeform und Bauweise

    5. Die Fotoserie von Walter Fietz vom Juli 1958

    6. Auswertung der Abbildung 20 durch Nachzeichnen

    7. Rekonstruktion des Dachstuhls

    8. Auswertung der Innenaufnahmen des Dachstuhls

    9. Erdgeschoss

    10. Erstes und zweites Obergeschoss

    11. Vergleichsbeispiele

    12. Zusammenführung der bisherigen Erkenntnisse

    13. Erster ganzheitlicher Rekonstruktionsversuch


    Oft findet man in alten Familien-Fotoalben oder in losen Fotosammlungen alteingesessener Geschäfte Fotos, welche einen Stammsitz während des Abbruchs zeigen. Solche Bilder können wahre Leckerbissen für die baugeschichtliche Forschung sein, aber nur solange, als Gebäude noch von Hand abgebrochen wurden.

    Ein sehr altertümliches Gebäude am Marktplatz/Bohl in St. Gallen, welches im Juli 1958 abgebrochen worden war, hatte schon lange meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ich beabsichtigte, beim jetzigen Geschäftseigentümer mal nachzufragen, ob er eventuell noch Fotos vom Abbruch des Hauses besitze. Nun kam es so, dass im Sommer 2008 das Ladengeschäft umgebaut und auf die Bauabschrankung just eine solche Fotografie projiziert wurde. Diese zeigte das 3. Obergeschoss sowie den Dachstuhl in völlig entkerntem Zustand, also nur noch mit dem übriggebliebenen Balkenskelett. Eine Nachfrage beim Geschäftsinhaber förderte noch drei weitere Ansichten zutage, welche das innere des Dachstuhles festhalten. Weitere Fotos fanden sich im Archiv der Kulturdenkmälerinventarisation des Kantons St. Gallen. Die Fotos beider Fundorte gehen auf den ersten kantonalen Denkmalpfleger des Kantons, Walter Fietz, zurück. Er war seiner Zeit weit voraus, indem er den Wert der bauhistorischen Forschung am Objekt und die Analysierung historischer Baustoffe schon in den 1960er-Jahren favorisierte. Dank seinen Fotografien war es erst möglich, fünfzig Jahre nach dem Abbruch dieses Hauses die Baugeschichte zu erforschen.


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    1) Der "Weinfalken" kurz nach der letzten Renovation ca. 1940 (Foto Ryser & Treuer, St. Gallen).


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    2) Ausschnitt aus einer Fotografie vom Abbruch des "Weinfalkens" im Juli 1958, auf Bauvorhang 2008 (Foto W. Fietz, 1958).

    Mittels einer starken Ausschnittsvergrösserung hoffte ich, Licht in die Entstehungsgeschichte dieses Balkenwirrwarrs bringen zu können. Handskizzen einzelner Partien führten nicht zum erhofften Ergebnis, sodass nur noch eine komplette Durchzeichnung und anschliessende Einfärbung konstruktiv zusammenhängender Balken in Frage kam. Auch starke, jahrhundertealte Setzungen im Innern des Hauses liessen dessen geometrische Rekonstruktion nicht befriedigend aufzeigen.

    Die weitere Beschäftigung mit dem Haus führte aber zur Entdeckung einer äusserst spannenden Baugeschichte, und es zeigte sich, wieviel baugeschichtliche Detailinformationen solche Abbruchfotos preisgeben können. Der Werdegang einer solchen baugeschichtlichen Erforschung eines Hauses soll hier Schritt um Schritt aufgezeigt werden.

  • 1. SITUATION


    Die Liegenschaft befindet sich an der Ecke Goliathgasse/Metzgergasse. Beide Gassen gehören zur ersten und einzigen Stadterweiterung, dem St. Mangenquartier (früher Ira-Vorstadt oder mindere Stadt), welches zu Beginn des 15. Jahrhunderts in die Stadtbefestigung einbezogen wurde. Die Goliathgasse dürfte allerdings auf einen Weg zurückgehen, welcher seit dem 9. Jahrhundert vom Kloster zur St. Mangenkirche hinauf führte.


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    3) Ansicht der Stadt St. Gallen von Osten nach Merian, vor 1638. Links die obere Altstadt mit der Klosteranlage, rechts die später ummauerte Ira-Vorstadt.

    Im Bereich zwischen oberer Altstadt und St. Mangenquartier etablierten sich ab dem 15. Jahrhundert öffentliche Gebäude wie Rathaus, Metzg, Kornhaus, Zeughaus und Waaghaus. Der mittelalterliche Marktplatz befand sich damals noch ganz auf dem Boden der oberen Altstadt und nahm die ganze Marktgasse ein, welche sich zum Rathaus hin trichterförmig verbreiterte. Mit dem ersatzlosen Abbruch des Rathauskomplexes zwischen 1865 und 1877 büsste die Marktgasse ihre Platzwirkung ein und geht seitdem "formlos" in den heutigen Marktplatz und Bohl über.

    Um die Metzg und das Kornhaus, welche im Sichtbereich des "Weinfalkens" lagen, fand der Rindermarkt statt, und erst im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mutierte dieser durch den Abbruch der spätmittelalterlichen, öffentlichen Bauten zum heutigen Marktplatz.

    Man darf annehmen, dass die Liegenschaft des "Weinfalkens" schon vor dem letzten Stadtbrand von 1418 überbaut war. Einerseits führte hier bereits seit einem halben Jahrtausend der Weg zur St. Mangenkirche vorbei, und die Goliathgasse selbst war eine der wichtigsten Ausfallstrassen der Stadt, durch welche der Verkehr in Richtung des Kantons Thurgau und weiter nach Konstanz führte.

  • 2. SAMMLUNG UND SICHTUNG VON ABBILDUNGEN


    Aus der Schlussfolgerung des oben Geschriebenen könnte man sehr viel Bildmaterial erwarten. Doch bereits die Stadtprospekte ab dem späten 16. Jahrhundert, welche alle von Osten her aufgenommen wurden, zeigen das Haus nur von einer Seite.


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    4) Ausschnitt aus dem Planprospekt von M. Frank, 1596.

    5) Ausschnitt aus dem Kleinen Pergamentplan, 1671.

    Die Erforschung dieser Stadtprospekte zeigte, dass der älteste von ihnen, der Planprospekt von Melchior Frank von 1596, sowie der 'Kleine Pergamentplan von 1671' die Häuser schon sehr genau festhielten! Beide zeigen ein zur Goliathgasse hin traufständiges, dreigeschossiges Haus mit einem Quergiebel. Gegen die Metzgergasse zu wandte es seine Giebelseite, und dahinter befand sich ein mit einer Mauer eingefasster Garten.


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    6) Ausschnitt aus einer Radierung von J. C. Mayr, um 1790.

    Zudem existiert eine um 1790 entstandene Reihe von Umrissradierungen von J. C. Mayr, welche einzelne Strassen und Plätze der Stadt zeigt. Auf einer dieser Radierungen, welcher von der Goliathgasse westwärts in Richtung Metzg und Kornhaus aufgenommen wurde, ist der "Weinfalken" am rechten Bildrand festgehalten. An vor-fotografischen Ansichten gibt es also lediglich diese drei verlässlichen Abbildungen des Hauses!


    Fotographische Ansichten ab den 1890er Jahren werden dann sehr zahlreich, da sich in den Jahren davor der Rindermarkt zum zentralsten Platz der Stadt entwickelte, dem heutigen Marktplatz und anschliessenden Theater- oder Hechtplatz (heute Bohl).


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    7) Bohl Richtung Osten; links die Häuserzeile am ehemaligen Rindermarkt, heute Marktplatz, davon die ersten fünf Häuser von rechts her 1954 abgebrochen; in der Mitte der "Weinfalken"; rechts Hotel Hecht, bis auf einen Teil der Fassade abgebrochen 1990; rechts angeschnitten Stadttheater, abgebrochen 1971 (Foto Gross, St. Gallen, um 1940).


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    8) Selbe Ansicht wie oben (Foto Gross, St. Gallen, zw. 1955 und 1958).


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    9) Ansicht von der Marktgasse/Marktplatz in die Goliathgasse (Foto Gross, St. Gallen, um 1940).


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    10) Ansicht des "Weinfalkens" und der anschliessenden Gebäude Goliathgasse 1 - 5 mit Blick in die Metzgergasse (Ansichtskarte ohne Verlagsangabe, vor 1905).


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    11) Ansicht wie oben heute (Januar 2008).

  • 3. PLANUNTERLAGEN


    Im Archiv der städtischen Bauverwaltung sind ab etwa 1880 alle Baueingabepläne praktisch lückenlos vorhanden. Die ältesten Pläne datieren aber bereits aus den 1860er-Jahren. Da die Gebäude der Altstadt früher selten totale Umbauten erfuhren, sind von diesen kaum Aufnahmepläne vorhanden, da jeweils nur die von Umbauten betroffenen Teile gezeichnet wurden. Schematische, aber für die Forschung immerhin brauchbare Unterlagen liefern die Kanalisationspläne ab etwa 1900, bei denen in die Grundrisse und Schnitte die Kanalisationsleitungen eingezeichnet wurden.

    Da der Weinfalken ab der Mitte des 19. Jahrhunderts keine nennenswerten Umbauten erfuhr, sind mutmasslich ausser Ladenumbau- und Kanalisationsplänen kaum andere Pläne vorhanden. So war es denn auch nach dem Besuch des Bauarchivs. Pläne sind zu folgenden Teilumbauten vorhanden:

    - 18?? kleine Vergrösserung des Stalles und Hofüberdeckung

    - 18?? Aufbau Lukarne auf Stall

    - 18?? Erhöhung des Stalles um ein 2. Geschoss

    Die undatierten, aber vom Baugesuchssteller signierten Pläne müssen gemäss Hausbesitzergeschichte zwischen 1879 und 1897 entstanden sein.

    - 1898 Baurechtsermittlung

    Damals dürfte eine Baulinie bestanden haben, welche bei einem allfälligen Neubau die Rücknahmen der Fassaden gefordert hätte, da der "Weinfalken" weit in die Gasse vorsprang.

    - 1907/08 Anschluss an die Kanalisation

    Erstmals sind hier Grundrisse vorhanden, allerdings nur des Erd- und 1. Obergeschosses, und zudem nur sehr rudimentär gezeichnet. Für eine Strukturerkennung sind sie trotzdem hilfreich. Auch ist ein Schnitt vorhanden, welcher allerdings gegen die Goliathgasse nur drei statt vier Geschosse zeigt (was aber eindeutig falsch ist).

    - 1912 Verlegung des Hauseinganges

    Die Haustüre wurde zwecks Vergrösserung des Ladens um wenige Meter nach hinten verschoben. Von der Seitenfassade zur Metzgergasse ist nur die Erdgeschosspartie gezeichnet, dafür aber auf den Zentimeter genau vermasst!

    - 1926 Ladenvereinigung

    Diese Baueingabe entstand auf der Grundlage des Planes von 1912

    - 1938 Fenstervergrösserung im Erdgeschoss

    Teilansicht der Fassade im EG und 1. OG

    - 1938 Kaminanbau an der Rückseite

    Die Rückfassade scheint hier recht genau aufgenommen worden zu sein; ebenso auch ein Schnitt durch sie, der die Verformungen der Fassade wiedergibt.

    Allen Plänen ab 1907 ist zudem ein Katasterplan beigefügt.

  • 4. ÜBERLEGUNGEN ZUR GEBÄUDEFORM UND BAUWEISE


    a) Gebäudeform:

    Die Dachform des "Weinfalkens" war höchst eigenwillig und wahrscheinlich das besondere Merkmal des Hauses. Es empfiehlt sich, als erstes das Haus von verschiedenen Seiten her aufzuzeichnen, um die Dachform zu verstehen oder deren Entstehung zu begreifen. Zur Vervollständigung der fotografischen Ansichten sei jedoch ein älterer Fotoausschnitt mit abgebildeter Rückseite vorangestellt:


    rueckseite1889.jpg

    12) Rückseitige Dachfläche gegen Nordwesten (mit den drei kleinen Dachlukarnen und ausgelegter Bettwäsche). Ausschnitt aus einer Stadtansicht von 1889 (ganze Fotografie siehe Abb. 62 in diesem Beitrag).


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    13) Der "Weinfalken" im Zustand bis zum Abbruch 1958. Links: Rückansicht von Westen; rechts: Vorderansicht von Südosten.

    In der St. Galler Altstadt herrscht die geschlossene Bauweise mit traufständigen Fassaden vor. Eckgebäude zeigen zur Seitenfassade hin in der Regel einen Giebel. Die Traufseite des "Weinfalkens" war gegen die Goliathgasse gerichtet, und das Pendant dazu, aber um ein Geschoss niedriger, gegen den Hof an der Metzgergasse. Die Traufe an der Seite gegen die Metzgergasse, wo eigentlich eine Giebelwand erwartet würde, rührte von einer abgewalmten Dachfläche her. An dieser Seite befand sich auch der Hauseingang, weshalb das Haus zur Metzgergasse gezählt wurde.

    Von der Rückseite gibt es nicht so viele Ansichten, weshalb ich einen Ausschnitt einer Stadtansicht von 1889 zeige. Bis zum Abbruch des Hauses gab es hier keine Veränderungen. Die Dachneigung der Rückseite war einheitlich, während die Dachfläche der Vorderseite kurz unterhalb des Firsts einen Einwärtsknick aufwies. Solche Knicke deuten meistens auf eine nachträgliche Aufstockung hin (im zweiten Bild des ersten Beitrags kann man in der Seitenwand eine ältere Dachschräge bereits erkennen). Auf der Rückansicht von 1889 sieht man zudem deutlich, dass der "Weinfalken" nicht ein Eckgebäude war, sondern ein Kopfbau, welcher die Häuserreihe an der Goliathgasse abschloss. Somit ist das Satteldach mit einem Halbwalm gegen die Metzgergasse verständlich.

    Auch der Dreiecksgiebel an der Vorderseite war eher ungewohnt. Es handelte sich nicht um einen klassizistischen Bekrönungsgiebel, denn dafür hatte er zu viele Unregelmässigkeiten. Der grossen Auskragung wegen könnte er das Überbleibsel einer ehemaligen Aufzugslukarne gewesen sein.

    Die folgende Rekonstruktionsskizze dient erst mal als Arbeitshypothese. Sie entstand aus den oben beschriebenen Vermutungen (nachträgliche Teilaufstockung, Aufzugsgiebel) sowie mit Basiswissen aus langjähriger Erforschung der Altstadt. Es gilt nun, nach baugeschichtlichen Hinweisen zu suchen, welche diese Hypothese untermauern oder gar zu einem andern Resultat führen. Auch Vergleiche mit andern Gebäuden sind unumgänglich.


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    14) Der "Weinfalken" von Südosten im hypothetischen Urzustand.


    b) Grundriss

    Dieser war leicht trapezoid bei parallelen Giebelwänden. Der zugehörige Hof an der Metzgergasse war teilweise mit Ökonomiegebäuden überbaut und erst um 1905 mit einem eigenständigen Gebäude überbaut worden. Eine Restfläche dieses Hofes bestand aber noch bis zum Abbruch des "Weinfalkens", da seine Rückseite befenstert war.

    Beim Neubau 1958 erfolgte eine Arrondierung zugunsten einer Verbreiterung der Metzgergasse. Im Gegenzug durfte dafür die Vorderfassade breiter ausgeführt werden, und auch der restliche Hofraum wurde nun vollständig überbaut. Bereits bei der Überbauung des Hofes um 1905 erfolgte eine Rücknahme der Baulinie an der Metzgergasse.


    situation-metzg2-1863-2008.jpg

    15) Überlagerung des ersten Vermessungsplanes von 1863 (unscharf, farbig) mit dem Katasterplan von 2008 (scharf, grau getönt).


    c) Bauweise:

    Auf dem Abbruchfoto im ersten Beitrag kann man erkennen, dass das Gebäude mindestens ab dem 3. Obergeschoss vollständig in Fachwerk aufgeführt war. Betrachtet man die schlanken Fensterpfosten der ersten beiden Obergeschosse, so wird auch hier klar, dass die Aussenwände nicht massiv gebaut gewesen sein konnten, sondern ebenfalls nur in Fachwerk (Blockbau kann ausgeschlossen werden, da solcher in der Altstadt noch nie nachgewiesen wurde, wohl aber ausserhalb der Altstadt). Zudem war auch die Fassadengliederung mit Lisenen und Gurtsimsen aus Holz ausgeführt. Über das Erdgeschoss kann bezüglich der Bauweise keine Aussage gemacht werden, da hier Öffnungen unterschiedlicher Bauepochen vorhanden waren. Die bogenförmigen Abschlüsse des Hauseinganges und Kellerabganges auf der Seite der Metzgergasse allein beweisen noch keine durchgehend massiven Erdgeschosswände. Diese Feststellungen finden mindestens für den Zustand um 1790 in der Ansicht Mayrs (Abb. 6) ihre Bestätigung.

  • 5. DIE FOTOSERIE VON WALTER FIETZ VOM JULI 1958


    Wie bereits in der Einleitung erwähnt, war der Auslöser für die baugeschichtliche Erforschung von Metzgergasse 2 eine 2008 auf eine Bauabschrankung projizierte Fotografie vom Abbruch des Hauses. Diese und weitere Fotos des Hauses befanden sich im Geschäftsarchiv des seit Jahrzehnten hier domizilierten Brillen- und Optikfachgeschäfts Ryser. Weitere Recherchen führten zum Urheber der Fotografien, Walter Fietz. Er war der erste Denkmalpfleger des Kantons St. Gallen in den 1960/70er-Jahren und dokumentierte offenbar schon vor seinem Amtsantritt historische Häuser, die dem Abbruch oder einem tiefgreifenden Umbau anheimfielen. Im Archiv der Denkmalpflege des Kantons liegen noch weitere Fotos aus dieser Reihe von Fietz. Insgesamt machte er vier Aufnahmen während den Vorbereitungsarbeiten zum Abbruch, zwei während der Entkernung des 3. Ober- und beider Dachgeschosse und drei während des Abbruchs des 3. Obergeschosses. Drei weitere Fotos, welche aber nicht explizit beschriftet waren, zeigen den Innenraum des Dachstuhles.

    Mit Hilfe dieser Fotos sollte es möglich sein, die Baugeschichte wenigstens ab dem 3. Obergeschoss zu eruieren. Weitere Überlegungen galten den drei Aufnahmen aus dem Estrich: stammen sie wirklich aus dem "Weinfalken", und welche Partien zeigen sie?

    Ein reines Beobachten und abskizzieren der Balkenkonstruktion aus den diversen Aufnahmen führte der Komplexität wegen nicht zum Ziel. Aussichtsreicher schien es, das Balkenskelett auf einer starken Vergrösserung einer der Aufnahmen auf dem Computer nachzuzeichnen, anschliessend zu ergänzen und zu analysieren. Für die Ergänzung verdeckter und unklarer Stellen halfen die restlichen Aufnahmen. Zum Glück sind die Aufnahmen so scharf, dass sogar Balkenverbindungen relativ genau ermittelt werden konnten.


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    16) Ausschnitt aus der Südostfassade gegen die Goliathgasse. Die Fassaden waren durch Lisenen und Gurtbänder aus Holz gegliedert. Eine solche Gliederung ist heute nur noch beim Haus Auf dem Damm 10 vorhanden und bis 1990 bei Schwertgasse 21, bevor das Fachwerk freigelegt wurde. Die einzelnen Fenster der beiden Reihenfenster sind unterschiedlich breit, was wohl auf eine beabsichtigte Gestaltung zurückgeht, und weniger auf konstruktive oder baugeschichtliche Gründe.


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    17) Die Baustelleneinrichtung beginnt. Was heute leicht mit Schuttrohren aus Kunststoff und Baumulden bewerkstelligt wird, musste damals noch aus Holz gezimmert werden. Unter den Metalltrichter konnten die Lastwagen durchfahren.


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    18) Die eigenwillige Dachform an der südlichen Ecke gegen die Metzgergasse.


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    19) Blick von der Marktgasse her.


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    20) Diese Fotografie wurde 2008 auf den Bauzaun projiziert. Sie ist auch geeigneter für eine Durchzeichnung des Balkenskeletts als die nächste Aufnahme. Man beachte auch den Baukran, der so aufgestellt wurde, dass die Autos unter ihm weiter in die Metzgergasse durchfahren konnten. Seine Gegengewichte bestanden nicht wie heute aus Betonteilen, sondern aus kurzen Eisenbahnschienenstücken, die von Hand eingefahren werden mussten. Zusätzlich musste die Seitenwand mit mehreren Balken gegen Umkippen gesichert werden.


    Metzgergasse-2_1.jpg

    21) Dank leicht verändertem Aufnahmewinkel ergänzt diese Foto die vorangehende Aufnahme. Für eine Durchzeichnung ist sie weniger geeignet, da der Baukran einen Teil verdeckt und auch die Aufsicht auf das Dach weniger günstig ist.


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    22) Das 3. Obergeschoss ist bereits teilweise abgetragen. Die schon auf der Bauabschrankung (respektiv Bild 21 und 22) erkannte ältere Dachschräge zeigt sich an weiteren Stellen. Der Abbruch dürfte deshalb schwierig gewesen sein, weil im 3. Obergeschoss Teile eines älteren Dachstuhls vorhanden waren, die zudem konstruktiv mit dem darüberliegenden Dachgeschoss verbunden waren (siehe den hochaufragenden Firststud mit angeblattetem Kopfband).


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    23) Auf dieser Aufnahme finden sich vielleicht Spuren der früher auskragenden Aufzugslukarne.


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    24) In dieser Form dürfte sich der "Weinfalken" in der Mitte des 15. Jahrhunderts präsentiert haben, als dem älteren Kernbau ein neues Dach mit Halbwalm aufgesetzt wurde. Die ehemalige Mittelpfette blieb als stark durchhängendes Tragelement des nachträglich aufgesetzten 3. Obergeschosses erhalten.


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    25) Falls die Aufnahme wirklich aus dem "Weinfalken" stammt, kann nur das 1. Dachgeschoss abgebildet sein, denn über dem 2. Dachgeschoss bestand kein Kehlboden mehr. Die Blattverbindung des Fussbandes und der ins 2. Dachgeschoss durchgehende Pfosten passen zu den auf den Abbruchfotos festgestellten Konstruktionsdetails.



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    26) Die Verbindungstreppe ins 2. Dachgeschoss. Oben rechts ein verziertes Sattelholz.



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    27) Anhand der beiden unterschiedlichen Dachneigungen kann hier schnell die südöstliche Dachfläche im 2. Dachgeschoss ausgemacht werden. Rechts führt der niedrige Estrichraum zum Giebeldreieck an der Hauptfassade. Es handelt sich also um das Dächlein des einstigen Aufzuggiebels. Da sich das Haus insbesondere im vorderen Bereich im Lauf der Jahrhunderte zur Metzgergasse neigte, entstand zum Nachbarhaus Goliathgasse 1 hin ein Hohlraum, in welchem die im Hintergrund sichtbaren Klosterziegel aufgebeigt wurden. Die Aufnahme zeigt also Richtung Nordosten. Damit ist auch die Blickrichtung bei Abbildung 26 gegeben.

  • 6. AUSWERTUNG DER ABBILDUNG 20 DURCH NACHZEICHNEN


    Als nächster Schritt erfolgt eine Nachzeichnung des Balkenskeletts aus der Abbruchfotografie (Abb. 20). Dabei dürfen unsichtbare oder unklare Details keinesfalls ergänzt werden! Ebenso muss beachtet werden, dass im Rahmen der Abbrucharbeiten einige Balken wie Sparren oder Deckenbalken aus ihrer ursprünglichen Lage bereits verschoben sein können. Bei Unklarheiten liegt immer auch der vergrösserte Ausschnitt aus Abbildung 21 vor Augen, die ja gleichzeitig mit ein paar Metern Abstand aufgenommen worden war. Sie dient zusammen mit Abbildung 20 als eine Art stereometrisches Bildpaar und leistet wertvolle Dienste.


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    28) Ausschnitt aus Abb. 20. Vergrösserung.


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    29) Ausschnitt aus Abb. 21.


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    30) Nachzeichnung des Balkenskeletts.


    Nach dem Herauskopieren der Nachzeichnung kommt man zu folgendem Resultat:


    metzgergasse-2_nachzeichnung2.jpg

    31) Herauskopierte Nachzeichnung mit Fehlstellen.


    Mit Hilfe weiterer Fotos werden unsichtbare und unklare Details ergänzt:


    metzgergasse-2_nachzeichnung-ergaenzt.jpg

    32) Nachzeichnung mit ergänzten Fehlstellen.


    Und jetzt folgt der spannendste Schritt, indem Ordnung in dieses Wirrwarr von Balken gebracht wird. Zusammengehörende Balken werden in der gleichen Farbe eingefärbt, für den hypothetischen Kernbau rot, für die vermutete Aufstockung gelb, sowie für die Front anstelle der ehemaligen Aufzugslukarne blau:


    metzgergasse-2_nachzeichnung-ergaenzt-farbig.jpg

    33) Auswertung der Nachzeichnung mit eingefärbten Bauetappen.

    Man müsste jetzt für diesen letzten Schritt viele Erklärungen dazuschreiben, was aber den Rahmen hier sprengen würde. In einer wissenschaftlichen Arbeit wäre dies unbedingt erforderlich. Ich verstehe diesen Schritt aber vielmehr in einer Annäherung an die Baugeschichte des "Weinfalkens", und er dient vor allem dem Kennenlernen der Baustruktur und der Balkenverbindungen. Erst jetzt ist es zusammen mit dem Wissen aus Bauuntersuchungen anderer Gebäude möglich, Vergleichsbeispiele heranzuziehen und Rückschlüsse daraus zu ziehen, respektive den 'Einfärbeversuch' zu untermauern.

  • 7. REKONSTRUKTION DES DACHSTUHLS


    Gleichzeitig mit der Suche nach Vergleichsbeispielen beschäftigte ich mich weiter mit der Rekonstruktion des Dachstuhls. Im Hinterkopf waren diese Vergleichsbeispiele bereits präsent, und da kamen von den spezifischen Balkenverbindungen und der Dachform her verschiedene Beispiele in Frage. Insbesondere Dachstühle mit Halbwalmen und solche mit Firststüden und Firstpfetten waren von Interesse. Diese Dachstühle weisen vor allem Blattverbindungen auf und konnten in den letzten dreissig Jahren zwischen 1450 und 1530 dendrodatiert werden. Liegende Dachstühle kamen für einen Vergleich nicht in Frage, da solche keine Firststüde und Firstpfetten aufweisen. Diese setzen in St. Gallen erst um 1500 ein (jüngst datiert: "Die Falkenburg", 1497/98 als Blockbau(!) mit liegendem Dachstuhl errichtet) und weisen Blatt- als auch Zapfenverbindungen auf.


    a) Definition der Geschossbezeichnungen:

    Aus den Bildern in den ersten Beiträgen geht hervor, dass der "Weinfalken" ein Erd- und drei Obergeschosse hatte. Darüber folgte ein Dachgeschoss (die Hahnenbalken unterhalb der Firstpfette unterteilten dieses nicht in zwei Geschosse). Aus der Nachzeichnung ist sofort ersichtlich, dass das 3. Obergeschoss nur aus einer Teilaufstockung zu beiden Seiten des Quergiebels entstand. Gegen die Metzgergasse bestand es aus der trapezförmigen Giebelwand unter dem Halbwalm. Gegen den Hof setzte das Dach bereits über dem 2. Obergeschoss an. Das 3. Obergeschoss bestand also bis zum Abbruch aus dem Ausbau eines ursprünglichen Dachgeschosses, das im Wesentlichen weiter als Lagergeschoss mit Abstellräumen und bewohnten Mansarden genutzt wurde. Ich definiere daher das vermeintlich 3. Obergeschoss neu als 1. Dachgeschoss, um Unklarheiten in der künftigen Beschreibung vorzubeugen. Darüber folgt nur noch das 2. Dachgeschoss. Insbesondere sei auf die Abbildungen 13 und 14 verwiesen.


    b) Merkmale des Kerndachstuhls:

    Das Giebelwandtrapez besteht aus drei mit Fuss- und Kopfbändern ausgesteiften Ständern. Über dem vordersten Ständer liegt eine Mittelpfette. Zwei Sparren bilden die Abschlüsse des Trapezes. Die Schwelle ist auf den Abbruchfotos nicht sichtbar, und damit auch die Fusspunkte der Ständer und Sparren nicht. In der Annahme, dass die durch zwei Riegelketten gebildeten drei Gefachfelder alle etwa gleich hoch waren, und aus der Lage des Fussbandes am mittleren Ständer kann die Höhenlage der Schwelle angenommen werden. Die Schwelle fungierte bei solchen Dachstühlen gleichzeitig auch als Deckenbalken und Rähm des darunterliegenden Geschosses.


    metzgergasse-2_nachzeichnung-ergaenzt-kerndachstuhl.jpg

    34) Hervorgehobene Balken des Kerndachstuhls.

    Wenn man nun diese Schwelle respektive Deckenbalken in der ganzen Hausbreite als Balkenlage über dem 2. Obergeschoss ergänzt, sieht man, dass diese ins Fensterlicht zu liegen kommt (feine rote Linien). Tatsächlich lagen die Deckenbalken der beiden seitlichen Aufstockungen etwa 40 cm höher. Diese wiederum stimmen auffallend mit der Ausbruchkante des Mauerwerks über dem 2. Obergeschoss überein (vgl. mit Abb. 30). Diese Ausbruchkante läuft bis zur Rückfassade durch; nur in der Mitte, wo wahrscheinlich das Treppenhaus lag, liegt die Abbruchkante tiefer. Diese tiefere Kante könnte ein Hinweis auf die zugehörende Schwelle sein, den die drei Gefachfelder darüber wären gleich hoch.

    Daraus kann postuliert werden, dass wohl gleichzeitig mit der Teilaufstockung die ganze Decke über dem 2. Obergeschoss um 40 cm höher gelegt worden war. Die ursprüngliche Höhe des 1. Dachgeschosses muss gut drei Meter betragen haben und jene des 2. Obergeschosses nur etwa 2.3 Meter. Somit wurde das Haus in der Tiefe lediglich noch von beiden Randdeckenbalken in den Giebelwänden und vielleicht einem weiteren über einer Raumtrennwand zusammengehalten.

    Verfolgt man diese Annahme weiter, kann auf den Fusspunkt der Sparren geschlossen werden. Diese liefen weder als Rafen über die Fassadenflucht hinaus und bildeten das Vordach, noch waren sie mit den Deckenbalken verblattet und bildeten so das Vordach. Vielmehr mussten sie innerhalb der Fassadenflucht in die Deckenbalken eingezapft gewesen sein, und mittels Aufschieblingen wurde dann das Vordach gebildet.

    Die Firstpfette lag auf zwei Ständern und war mit diesen durch zwei Kopfbänder verbunden. Der Ständer in Hausmitte blieb trotz weitgehend abgebrochenen Dach (vgl. Abb. 24) eine Zeit lang stehen. Sehr wahrscheinlich handelte es sich um einen Firststud, der durch beide Dachgeschosse hindurch verlief. Dasselbe wäre bei seinem Pendant in der Haustrennwand gegen Goliathgasse 1 zu vermuten.

    Der ehemalige Aufzuggiebel war konstruktiv mit dem Dachstuhl verbunden. Seine ungewöhnliche Höhe stimmte mit der Dachgeschosshöhe überein. Zwei über die Mittelpfette hinauslaufende Kehlbalken bildeten gleichzeitig den Abschluss der seitlichen Giebelwände und die Basis für das Satteldächlein. Einen nachträglich aufgesetzten Aufzuggiebel hätte man kaum so hoch ausgeführt.


    c) Beschreibung des Kerndachstuhls:

    - Satteldach mit einseitigem Halbwalm und Aufzuggiebel

    - dreifach stehender Dachstuhl, wovon der mittlere Stuhlbinder aus acht Meter hohen Stüden gebildet wird

    - Dachflächen aus neun Sparrenbindern und unten eingezapften Sparren mit Aufschieblingen

    - Walmsparren vermutlich mit Sparrenschuhen verblattet und dem Giebeltrapez aufgelegt.


    d) Rekonstruktion des Kerndachstuhls:

    Die Darstellungsweise erfolgt immer noch auf Grundlage der Nachzeichnung aus der Fotografie. Die rückwärtigen, auf der Fotografie verdeckten Bauteile wurden mit den angenommenen Verformungen ergänzt.


    metzgergasse-2_rekonstruktion-kernbau-stuhl.jpg

    35) Rekonstruktion des Dachstuhls des Kernbaus mit den drei hervorgehobenen Stuhlbindern.


    metzgergasse-2_rekonstruktion-kernbau-getoent.jpg

    36) Rekonstruktion des Dachstuhls des Kernbaus.

    Da der Blickwinkel jener von der Strasse aus ist, sind Teile des Dachstuhls nicht sichtbar, und es empfiehlt sich für die Weiterarbeit eine axonometrische Darstellung von oben und ohne Verformungen. Auch eine Plandarstellung käme jetzt schon in Frage (Bleistift und Papier lagen immer bereit und waren unabdingbare Hilfen für die bisherige Arbeit).

  • 8. AUSWERTUNG DER DREI INNENAUFNAHMEN DES DACHSTUHLS


    Nun sollte es auch möglich sein, die drei nicht näher bezeichneten Innenaufnahmen des Dachstuhls zu lokalisieren und auszuwerten. Die Frage, ob sie tatsächlich aus dem Weinfalken stammen, wurde schon in Kapitel 5 bei zwei Fotos bejaht. Die Lokalisierung der dritten Fotografie bereitete einiges Kopfzerbrechen, aber aufgrund der Fotoqualität und von zwei Details (Blattverbindung, mehrgeschossiger Ständer) stammt sie mit grosser Wahrscheinlichkeit auch aus dem Weinfalken.


    Metzgergasse-2_2.DG.jpg

    37) 2. Dachgeschoss gegen Nordosten.

    Den frei im Raum liegenden Sparren einer älteren Dachschräge sind flacher geneigte Sparren (richtig wäre die Bezeichnung "Rafen") einer Aufstockung aufgelegt. Nach rechts geht es in einen niedrigen Dachraum, zu dessen Seiten zwei mit ausgemauertem Fachwerk eingefasste Kammern bestehen. Diese Kammern gehören konstruktiv zur flacheren Dachschräge. Die ganze Situation stimmt mit der südöstlichen Dachfläche gegen die Goliathgasse überein, wenn man sie mit Abbildung 33 vergleicht (der Blick geht dort von links nach rechts unter den gelb bezeichneten Sparren/Rafen). Der niedrige Dachraum rechts ist demnach das Satteldächlein des einstigen Aufzuggiebels. Das Fehlen eines Fensters in der Giebelwand spricht ebenfalls dafür, da hier das Nachbarhaus Goliathgasse 1 anschliesst. Die Fotografie zeigt demnach das 2. Dachgeschoss in Richtung Nordosten. Die beiden Kammern wurden durch die beiden Lukarnen seitlich des Dreieckgiebels belichtet.

    Ein Augenmerk richtete ich auch auf den durchhängenden Boden aus breiten Dielen, welche quer zum darunterliegenden Kehlgebälk aufgenagelt sind. Beim Treppenausschnitt erkennt man, dass dieser Boden nachträglich leicht aufgeschiftet worden ist; möglicherweise zur Zeit der Aufstockung.


    Metzgergasse-2_1.-2.DG.jpg

    38) Treppe vom 1. ins 2. Dachgeschoss gegen Südosten.

    Die zweite Aufnahme zeigt die Treppe vom 1. ins 2. Dachgeschoss. Im Hintergrund oben erkennt man die Tür zur Dachkammer im ersten Bild, ebenso stimmen auch die Geländer überein. Rechts von der Treppe sieht man die Deckenkonstruktion mit den Kehlbalken und querverlaufenden Bodendielen. Nur das geübte Auge wird auch hier wiederum die Schiftung erkennen. Die Balkenverzierung (17./18. Jh.) rechts oben gehört zu einem Sattelholz, das einen quer zum Kehlgebälk verlaufenden Unterzug trägt. Wahrscheinlich ist es derselbe wie in Abbildung 39 rechts, aber in Gegenrichtung.


    Metzgergasse-2_1.DG.jpg

    39) 1. Dachgeschoss gegen Westen.

    Diese Aufnahme bereitete nun Kopfzerbrechen. Auf Grund der Decke konnte es sich nicht um das 2. Dachgeschoss handeln, das bis zum First reichte, und auch kaum um eine Aufnahme aus den ersten beiden Obergeschossen, deren Decken wahrscheinlich alle vergipst waren. Somit blieb nur noch das 1. Dachgeschoss - unter der Annahme, dass die Fotografie überhaupt aus dem Weinfalken stammte.

    Dass es sich um eine verwandte Konstruktion wie jene des Weinfalkens handelte, zeigt die Strebe an der Decke mit einem schwalbenschwanzförmigen Blatt - also ein angeblattetes Fussband. Der Pfosten rechts läuft ins obere Geschoss hinein und wurde offensichtlich mit der Strebe gesichert. Durch zwei Geschosse verlaufende Pfosten auch im Dachbereich sind für die Bauten des 15. und frühen 16. Jahrhunderts in St. Gallen nicht unüblich.

    Im Hintergrund sieht man ein Fenster - also müsste das Bild eine Partie nahe der Giebelwand zur Metzgergasse in Richtung Süden zeigen. Die Richtung der Bodendielen kann aber kein Indiz zur Richtungsbestimmung der darunter liegenden Balkenlage sein, denn oft wurde ein neuer Boden direkt auf den alten genagelt und vorher noch eine Schiftung angebracht. Die Dielen können dabei parallel oder kreuzweise auf die alten gelegt worden sein. Dass der Boden effektiv mal ausnivelliert worden ist, erkennt man an der fehlenden Durchbiegung im Vergleich mit dem Unterzug.

    Nun folgt ein Blick auf die Richtung der Deckenbalken respektive Kehlbalken. Die Richtung von Deckenbalken verläuft bei reinen Fachwerkbauten, also bei Gebäuden ohne gemauerte Seitenwände, normalerweise in die Tiefe. Bei Traufständigkeit verhält es sich so auch bei den Dachstühlen. Bei einem Walm- oder Halbwalmdach wird oft mittels zwei Gratbalken in einem Winkel von 45 Grad unter der Walmfläche auch die Balkenlage um 90 Grad gedreht, sodass die Sparren bequem auf sie gelegt werden können. Dies ist beim auf 1460 dendrodatierten Dachstuhl mit Halbwalm von Schmiedgasse 28 der Fall, ebenso auch beim noch nicht untersuchten Dachstuhl von Kugelgasse 16. Eine solche Balkenlage muss aber nicht zwingend gedreht werden, denn die Rafen/Sparren der Walmfläche könnten auch einfach auf das Rähm aufgenagelt oder mittels eines Balkenschuhs auf das Rähm des Giebeltrapezes aufgelegt werden. Somit ist die Balkenverlaufsrichtung auch keine Hilfe zur Bestimmung der Fotografie.

    Nun musste das Fenster im Hintergrund hinterfragt werden. Dieses zeigt nur drei Scheiben in der Höhe, aber in der fraglichen Giebelwand zur Metzgergasse hin bestanden nur Fenster mit vier Scheiben in der Höhe. Die Annahme als Aussenfenster führte also auf einen Irrweg. In alten Gebäuden wurden oft nachträglich innenliegende Küchen und Treppenhäuser durch eine Wand mit Binnenfenstern voneinander abgetrennt. Konnte es auch ein Binnenfenster sein, welches das Treppenhaus vom Estrich abtrennte? Das Treppenhaus befand sich tatsächlich etwa in der Mitte der Seitenfassade, wo auch der Hauseingang lag. Somit könnte ich mich in der Blickrichtung um 90° geirrt haben!

    Das Bild birgt noch weit mehr Aussagen, deren Beschreibung hier aber den Rahmen sprengen würde; ich wollte nur mal ein Beispiel schildern, wie man Trugschlüsse und Folgerungen aus scheinbar nichtssagenden Details ziehen kann. Die Aufnahme stammt sicher aus dem 1. Dachgeschoss des Weinfalkens und wurde von der Hausmitte in Richtung Westen aufgenommen. Der Ständer, welcher über zwei Geschosse hinweg läuft, steht genau unter dem Schnittpunkt des Firsts mit den beiden Gräten der Walmdachfläche. Es ist der gleiche Ständer, der auch auf den Abbruchfotos (Abb. 22-24) allein in den Himmel ragt. Die Kehlbalkenlage zwischen den beiden Dachgeschossen verlief also ebenfalls in die Haustiefe und war nicht wie bei Schmiedgasse 28 unter dem Walm gedreht. Der Balkenschuh des ersten (entfernten) Walmsparrens von Süden kann auf den Abbruchfotos und den Nachzeichnungen eindeutig erkannt werden. Er ist ein Beweis, dass die Kehlbalkenlage unter der Walmfläche nicht wie bei Schmiedgasse 28 gedreht wurde.


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    40) Grundriss 1. Dachgeschoss mit Rekonstruktion der Sparren und Blickrichtung der drei Innenaufnahmen beider(!) Dachgeschosse.

  • 9. ERDGESCHOSS


    Für die Erforschung der Vollgeschosse ist im Bauarchiv insbesondere ein Plan von 1912 von Interesse, da er wenigstens den südwestlichen Laden samt Treppenhaus mit Vermassung zeigt. Dieser Plan wurde 1926 vom selben Planfertiger um den nordwestlichen Laden vervollständigt, wobei die Haustrennwand zu Goliathgasse 1 nicht mit dem Katasterplan übereinstimmt (im Katasterplan sind jeweils auch die gemeinsamen Haustrennwände samt Vor- und Rücksprüngen eingezeichnet, und nicht nur die Grundstücksgrenzen).


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    41) Erdgeschoss im Zustand bis 1912 (Grundlage: Baupläne von 1912 und 1926 im Bauarchiv der Stadt St. Gallen).

    Ein Vergleich mit dem Grundriss im Kanalisationsplan ergibt nichts. Nicht einmal die Aussenwände sind in der tatsächlichen Stärke eingetragen und könnten leicht als Fachwerkwände interpretiert werden. Die Zweiteilung in der Breite ist vorhanden, aber an der falschen Stelle gezeichnet; einzig die Dreiteilung in der Tiefe (Treppenhausflur) ist korrekt eingemessen worden.

    Die Aussenwände bestanden aus Mauerwerk. Auffallend ist die westliche Gebäudeecke, wo die Mauern eine Stärke von ca. 1.20 m aufwiesen. Sonst sind die Mauerstärken sehr variabel und deuten grösstenteils auf Massivbauweise hin. Die gemeinsame Trennwand mit Goliathgasse 1 ist heute wohl noch existent, denn es ist kaum vorstellbar, dass eine Bruchsteinwand auf die Grundstücksgrenze zurückgeschrotet wurde, ohne nachteiligen Schaden auf das Nachbarhaus auszuüben. Ebenso dürfte die Westecke in ihrem Fundament in der Gasse noch vorhanden sein, da beim Neubau 1958 hier die Baulinie deutlich zurückgenommen wurde.

    In der Breite war das Erdgeschoss zweigeteilt: nordöstlich in einen grossen Laden und südwestlich in einen kleinen Laden, Treppenhaus und Nebenraum. Unter der Treppe ins 1. Obergeschoss befand sich ein Kellerhals (Treppe vom Keller direkt auf die Gasse).

    Um sich ein Bild des ursprünglichen Grundrisses (gemeint ist zu spätgotischer Zeit) machen zu können, ist die Kenntnis anderer Grundrisse heranzuziehen. Diese hatten meist eine Dreiteilung in der Tiefe, gleich wie in den Obergeschossen. Dabei betrugen die Gebäudetiefen in der oberen Altstadt im Durchschnitt 12 bis 15 Meter, was annehmbare Raumgrössen erlaubte. Das Treppenhaus war normalerweise in der Mitte angeordnet. In der unteren Altstadt, deren Eingang der Weinfalken markierte, betrugen die Gebäudetiefen grösstenteils 9 bis 12 Meter, woraus oft nur zwei Räume hintereinander resultieren konnten. Der "Weinfalken" hatte aber eine für St. Gallen völlig ungewöhnliche Gebäudetiefe von 18 Metern - ein Mass, welches in der oberen Altstadt nur bei ganz wenigen Patrizierhäusern, vorwiegend an der Markt- und Spisergasse, gemessen werden konnte.

    Eine Dreiteilung in der Tiefe ist beim "Weinfalken" erkennbar im Bereich des Treppenhauses. Die beiden Längswände waren etwa 20 cm dick, was durchaus einer tragenden Fachwerkwand entsprach. Die vordere Längswand fluchtete zudem mit dem Kamin - ein weiteres Indiz für das hohe Alter dieser Wand. Weiter konnte bei den meisten Bauten in der Altstadt festgestellt werden, dass die Raumtiefen im Verhältnis von 1,3 : 1 : 1 bis 1,4 : 1 : 1 zueinander standen (von vorne nach hinten). Beim "Weinfalken" betrug dieses Verhältnis 1,3 : 1 : 1,6. Könnte es sein, dass der "Weinfalken" einst in den Hof hinaus eine Erweiterung erfuhr? Bauliche Hinweise dazu gibt es keine, nicht einmal im Dachstuhl. Die grosse Gebäudetiefe und das Vorspringen der Rückwand gegenüber dem Nachbarhaus Goliathgasse 1 (oben im Grundrissplan) lassen diese Möglichkeit aber zu. Stellt man sich eine hypothetische Rückwand in derselben Flucht wie bei Goliathgasse 1 vor, so erhält man tatsächlich ein Verhältnis von 1,3 : 1 : 1! Diese Hypothese kann zwar mit nichts nachgewiesen werden, aber sie ist es trotzdem Wert, im Hinterkopf vermerkt zu werden, falls in den Obergeschossen weitere Feststellungen in diese Richtung gemacht werden können.


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    42) Erdgeschoss im Zustand bis 1912 mit hypothetischer ursprünglicher Grundrissstruktur des Kernbaues (rot).

    Nun folgen noch Gedanken zur Mittelquerwand. Die Dicke der 1926 abgebrochenen Querwand im Ladenbereich wird mit ca. 12 cm angegeben, womit es sich nicht um eine tragende Fachwerkwand gehandelt haben kann. Ich postuliere daher diese Wand als nicht zum Kernbestand gehörend. Ihre Fortsetzung im hinteren Gebäudedrittel war leicht verschoben und offenbar ein bisschen dicker, und könnte damit älteren Ursprungs als ihr Pendant im vorderen Bereich gewesen sein.

    Gemäss der Abbildung Mayrs bestanden schon im 18. Jahrhundert zwei Eingänge gegen die Goliathgasse. Beim linken könnte es sich um den Hauseingang gehandelt haben und beim rechten um den Zugang zu einem Laden oder einer Werkstatt. Die Trennwand dazwischen befand sich kaum in der Fassadenmitte, sondern dürfte eher weiter südwestlich gelegen haben. Ein Blick auf die ersten beiden Obergeschosse gegen die Goliathgasse lässt auch dort den Schluss zu, dass die Querwände bis zum Gebäudeabbruch nicht in Fassadenmitte angeordnet, sondern ebenfalls gegen Südwesten verschoben waren.


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    43) Ausschnitt aus einer Radierung nach J. C. Mayr, um 1790.

    44) Der "Weinfalken" kurz nach der letzten Renovation um 1940 (Foto: Ryser & Treuer, St. Gallen). Das Erdgeschoss präsentiert sich hier nach der 1926 erfolgten Zusammenlegung der beiden Läden. Gegen die Metzgergasse erkennt man den niedrigen, bogenförmigen Kellerzugang und daneben die 1912 verschobene Haustüre.

  • 10. ERSTES UND ZWEITES OBERGESCHOSS


    Die Pläne im Bauarchiv sagen leider nichts über die Obergeschosse des Weinfalkens aus. Nur ein Plan von 1938 für ein Gesuch um Anbau eines Kamins an die Rückfassade zeigt eine Ansicht und einen Schnitt durch letztere. Somit bleiben die Grundrisse der Obergeschosse leider im Dunkeln. Zwei Fotos von W. Fietz (Abb. 18 u. 19) zeigen an der Seite gegen die Metzgergasse einzelne Verfärbungen im Verputz, die auf das darunterliegende Fachwerk hindeuten. Sie bleiben somit die einzige Hoffnung auf baugeschichtliche Hinweise der Obergeschosse. Einzelne Fotos im Archiv des Optikergeschäfts zeigen wohl Innenräume, die aber nicht mehr genau lokalisiert werden können.

    Nun ist der Zeitpunkt gekommen, weitere Fotografien der Fassaden auf Unregelmässigkeiten, Verformungen etc. zu betrachten. Gleichzeitig wurden geeignete Fotos so entzerrt und vergrössert/verkleinert, dass von ihnen eine massstäbliche Fassadenabwicklung erstellt werden konnte. Für die Vorderfassade schien die Abbildung 1 am geeignetsten. Zur Überprüfung des Breiten-/Höhenverhältnisses wurde eine entzerrte Fotografie während des Abbruchs (Abb. 24), allerdings ohne das 1. Dachgeschoss, darüber gelegt, da diese ziemlich frontal aufgenommen wurde und somit am wenigsten verzerrt war. Die Fassadenbreite ist aus dem Katasterplan bekannt, und die Höhe könnte vom noch bestehenden Nachbarhaus Goliathgasse 1 bestimmt werden. Der Aufwand der Höhenvermessung wurde hier aber eingespart und die Höhe aus der Erfahrung in Fassadenentzerrung übernommen.

    Als Grundlage für die Seitenfassade diente eine Fotografie aus der Reihe der Abbruchaufnahmen von 1958. Mit einer Breite von 18 Metern ist sie sehr selten in voller Breite und zudem oft sehr stark verkürzt abgebildet. Ihre Höhe wurde von der Vorderfassade übernommen. Anschliessend erfolgte ein Vergleich mit dem detailliert vermassten Eingabeplan zur Haustürverlegung von 1912, wobei eine weitgehende Übereinstimmung festgestellt werden konnte.

    Von der Rückfassade gibt es ebenfalls Fotos, die aber innert nützlicher Zeit nicht aufzutreiben waren. Daher fiel die Entscheidung zur Verwendung des Fassadenplanes von 1938, der allerdings nicht vermasst, aber im Massstab 1:50 gezeichnet war. Seine Korrelation mit den anderen Fassaden bereitete keine Schwierigkeiten.


    metzgergasse-2_fassadenabwicklung.jpg

    45) Massstäbliche Fassadenabwicklung. Links: Rückfassade (Plan von 1938); Mitte: Seitenfassade zur Metzgergasse (Abb. 19); rechts: Vorderfassade zur Goliathgasse (Abb. 1). Vergrösserung.

    Zur Vorderfassade: Auffallend ist die identische Fensterteilung im 1. und 2. Obergeschoss, die auf eine identische Raumaufteilung schliessen lässt und damit auch auf eine möglicherweise identische Baustruktur. Merkwürdig ist die Zunahme der Fensterbreiten in beiden 5er-Reihenfenstern von aussen zur Mitte. Ob diese Unregelmässigkeiten auf eine nachträgliche Verbreiterung ursprünglich schmalerer Fenster zurückzuführen ist, bleibt unbekannt. Der Planprospekt von Frank 1596 und der Grosse Pergamentplan von 1671 (Abb. 4 u. 5) zeigen unten ein Reihenfenster und oben ein schmaleres Fenster. Die beiden Reihenfenster sind auf der Ansicht Mayrs von etwa 1790 (Abb. 43) bereits vorhanden.

    Zur Seitenfassade: Die Wand buchtete rechts zwischen dem 1. und 2. Obergeschoss sehr stark aus. Mehrere dunkle Verfärbungen zeichnen offenbar das darunterliegende Fachwerk ab, aber es muss beachtet werden, dass es sich auch um Flicke im Verputz oder auch um Etappengrenzen handeln könnte. Insbesondere die Verfärbungen im Bereich der Gurtsimsen könnten Feuchtigkeit oder Flicke anzeigen. Das helle Band auf halber Höhe des 1. Obergeschosses könnte auf Salzausblühungen zurückzuführen sein.

    Aus dem Fotomaterial geht hervor, dass der "Weinfalken" bis etwa 1900 einen glatten, hell gestrichenen Kalkputz besass. Dieser wurde um 1900 mit einem dunkel gestrichenen Kieselwurf beworfen, welcher seinerseits 1930/40 einen hellen Anstrich erfuhr und gegen die Goliathgasse das Wandgemälde erhielt. Beim Abbruch 1958 war der Kalkputz offenbar noch fast vollflächig vorhanden. Es ist nun möglich, dass der Kalkputz bis auf die halbe Höhe des 1. Obergeschosses durch einen Zementputz ersetzt worden war, und die Mauerfeuchte durch die Kapillarwirkung erst oberhalb dieses (wasserundurchlässigen) Zementbandes austreten konnte. Beim Austritt hinterliess die Feuchtigkeit Salzausblühungen, welche sich in einem hellen Band abzeichneten.

    Eine Hervorhebung aller dunkel verfärbten Stellen an der Seitenfassade dürfte am ehesten weitere Kenntnisse zur Baugeschichte preisgeben.

    Zur Rückfassade: Die einzige baugeschichtliche Aussage ergibt nur der zugehörige Schnitt durch die Fassade (hier nicht wiedergegeben). Dieser Schnitt war nötig, um den Abstand des projektierten Aussenkamins von der Fassade ermitteln zu können, da diese dort im 2. Obergeschoss stark nach aussen kippte. Zudem ist im Schnitt ein Kniestock eingezeichnet, was Rückschlüsse auf die Ausbildung des Dachfusses geben dürfte.


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    46) Massstäbliche Fassadenabwicklung mit Eintragung des Fachwerks des Dachstuhls und der Aufstockung sowie Hervorhebung der dunkel verfärbten Stellen im Verputz der Seitenwand. Die roten Quadrätchen und das Rechteck kennzeichnen die Lagen diverser Unterzüge an der Erdgeschossdecke gemäss dem Plan von 1912. Vergrösserung.

  • 11. VERGLEICHSBEISPIELE


    Die Planunterlagen und die Fotos vom Abbruch haben keine sicheren Kenntnisse über die Bauweise der ersten beiden Obergeschosse hergegeben. Durch Vergleichsbeispiele dokumentierter Bauten in der Altstadt ist es dennoch möglich, eine Vorstellung von ihr zu erhalten. Anhaltspunkte liefert einzig der rekonstruierte Dachstuhl, doch es ist nicht als sicher vorauszusetzen, dass dieser gleich alt wie die Vollgeschosse war.

    Die Fachwerkbauten in St. Gallen haben noch nie eine eingehende Würdigung erhalten. In den letzten dreissig Jahren wurden zwar viele Einzelbauten untersucht und datiert, und aus diesem Fundus sollen hier einige Bauten für einen Vergleich mit dem Weinfalken herangezogen werden. Eine erste Übersicht ist im Strang Fachwerkbauten in der St. Galler Altstadt zu finden.

    Es gibt zwei markante Merkmale, welche den Dachstuhl des Weinfalkens auszeichneten:

    - Halbwalm

    - dreifach stehender Dachstuhl mit Firststüden (Pfosten unter der Firstpfette, über mehrere Geschosse durchgehend möglich).


    a) Bauten mit Halbwalmdächern

    Halbwalmdächer sind in St. Gallen eine Ausnahme. Gemäss der ältesten Ansicht von Heinrich Vogtherr von 1545 (Ausschnitt) waren solche damals noch zahlreicher, aber sie dürften gemäss baugeschichtlichen Befunden bereits im 16. Jahrhundert aus der Mode gekommen sein. Folgende Bauten können für einen Vergleich herangezogen werden:


    Kugelgasse 16 (kleiner Halbwalm, 1911 durchgreifend neu- und umgebaut)

    Gemäss Plänen und einer Fotografie im Bauarchiv, die während den Umbauarbeiten gemacht worden war, bestand das Haus aus drei Massiv-, einem Fachwerk- und drei Dachgeschossen. Das Fachwerkgeschoss entstand wohl gleichzeitig mit dem Dach und war mindestens mit angeblatteten, breiten Kopfbändern verstrebt. Bauzeit: der Dachstuhl weist eine frappante Ähnlichkeit mit jenem von Schmiedgasse 28 auf, der ins Jahr 1460 dendrodatiert werden konnte.


    Schmiedgasse 28 (Umbau und Dokumentation 1992/94)

    Im Vorfeld eines Totalumbaus wurde dieses Haus dokumentiert und seine Baugeschichte erforscht. Weitere Beobachtungen und eine Dendrodatierung während des Umbaus bestätigten die vermutete Baugeschichte. Es ist ein typisches Beispiel, wie heterogen die Bauten in St. Gallen sind, da während 500 Jahren selten Gebäude abgebrochen, sondern immer wieder erweitert und aufgestockt worden waren.

    Ein Vergleich dieses Hauses mit dem Weinfalken ist unumgänglich, da beide eine sehr ähnliche Grundform (Kopfbau, Drei- resp. Viergeschossigkeit, Halbwalmdach, Balkenverbindungsdetails) haben. Die zusammengefasste Baugeschichte sieht so aus (links Seitenfassade, rechts Vorderfassade, Rückfassade ist nicht dargestellt):

    schmiedg28-i.jpg

    47) Bauphase I: 1436 (18 Jahre nach dem Stadtbrand) entsteht über einem Erdgeschoss in Bruchstein- oder Ständerbauweise eine zweigeschossige Wandständerkonstruktion. Mindestens die Stube im 1. Obergeschoss war mit Bohlen ausgefacht, die restlichen Wände wahrscheinlich mit einem lehmüberzogenen Rutengeflecht. Die Gebäudetiefe betrug etwa 11 m und war in drei Raumzonen im Verhältnis 1,3 : 1 : 1 unterteilt. Analog zu anderen Bauten aus der Wiederaufbauphase nach dem Stadtbrand von 1418 dürfte das Satteldach ca. 30° geneigt gewesen sein und lag auf einer Firststudkonstruktion auf.

    schmiedg28-ii.jpgschmiedg28-ii-persp.jpg

    48) Bauphase II: 1460 erfolgt eine rückwärtige Erweiterung. Dabei wurden die Mittelräume mit Küche/Treppenhaus/Flur vergrössert und die hinteren Kammern komplett in Geschossbauweise neu erstellt. Anstelle des alten Dachstuhls folgte ein steileres Satteldach mit Halbwalm und gassenseitiger Aufzugslukarne (in der linken und mittleren Skizze links nicht eingezeichnet). Die obere der neuen rückwärtigen Kammern hatte respektable Ausmasse und erhielt Wände und Decke aus Bohlen.

    schmiedg28-iii.jpg

    49) Bauphase III: Im Zusammenhang mit dem Neubau des nordöstlich anschliessenden Nachbargebäudes um 1640 wurde das Haus gassenseits in ausgemauertem Fachwerk aufgestockt und erhielt an der Stube einen Erker.

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    50) Bauphase IV: Vom 18. bis 20. Jahrhundert erfuhr das Haus nur noch unwesentliche Veränderungen. Insbesondere wurde das Fachwerk verputzt und die Fensteranordnung den wechselnden Bedürfnissen angepasst.

    Keinesfalls darf jetzt aber geschlossen werden, dass der Weinfalken nur aus Gründen der beschriebenen Baugeschichte von Schmiedgasse 28 auch eine rückwärtige Erweiterung erfahren hatte. In den Konstruktionsdetails unterschieden sich die beiden Dachstühle. Während beide Dächer auf einem dreifach stehenden Stuhl mit Firststüden aufsassen, waren beim Weinfalken die Sparren am Fuss in die Dachbalken eingezapft und das Vordach mit Aufschieblingen gebildet worden. Bei Schmiedgasse 28 waren die Sparren mit den Dachbalken verblattet und bildeten ohne zusätzliche Aufschieblinge zugleich auch das Vordach. Die Sparren der Walmfläche waren beim Weinfalken mittels Sparrenschuhen auf dem äussersten Kehlbalken, der gleichzeitig als Wandrähm des Giebeltrapezes fungierte, aufgelegt; bei Schmiedgasse 28 waren sie mit über dem Kehlgebälk aufgekämmten Stichbalken und Gratstichbalken verblattet.


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    51) Schmiedgasse 28 (weiss gestrichen mit Erker) von der Bankgasse aus.


    Turmgasse 6 (undokumentiert)

    Dieses Eckhaus wird von einem Pultdach und dementsprechend 'halben Halbwalm' bekrönt. In der Literatur wird das Baudatum des Hauses mit 1523 angegeben, was aber sehr zweifelhaft ist. Die ersten beiden Obergeschosse in Wandständerbauweise weisen alle Merkmale der Bauweise (doppelter Rähm) auf, welche nach dem letzten Stadtbrand von 1418 dominierte. 1523 könnte das auskragende 3. Obergeschoss samt dem 'halben Halbwalm' aufgestockt worden sein. Kurz nach 1900 erfuhr das Haus eine historisierende Restaurierung, bei der das originale Fachwerk mit einem Brettchenfachwerk versehen wurde, sodass heute die Verbindungsdetails nicht mehr sichtbar sind. Das Haus ist 1965/66 mit dem Neubau des benachbarten Schulhauses vereinigt und stark umgebaut worden.


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    52) Turmgasse 6 von Westen. Baudatum gemäss Literatur 1523, untere drei Geschosse wahrscheinlich älter.

  • b) Bauten mit stehenden Dachstühlen mit Firststud


    Kugelgasse 5 (Umbau und Dokumentation 1989)

    Gemäss einer Dendrodatierung geht der Kernbau auf das Jahr 1458 zurück. Über einem sehr wahrscheinlich von Anfang an gemauertem Erdgeschoss ruht eine zweigeschossige Wandständerkonstruktion, die mit Fuss- und Kopfbändern ausgesteift ist. Bei einer Gebäudetiefe von 16 Metern und einer Struktur mit drei hintereinander liegenden Räumen beträgt das Raumtiefenverhältnis 1,55 : 1,55 : 1. Ein solches Verhältnis mit einem gleich tiefen Mittelraum wie die Stube steht bisher in St. Gallen alleine da. Der grosse Unterschied der Räume in der Breite kann wiederum häufig beobachtet werden.

    Darüber folgte ein dreifach stehender Stuhl mit durchgehenden Firststüden. Von ihm sind infolge Aufstockung des Gebäudes um 1800 nur noch die beiden Giebelwände erhalten. Die Firstpfettenwand stand auf einer Schwelle, während die Pfosten der Mittelpfettenwände wahrscheinlich direkt auf den Dachbalken standen.


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    53) Kugelgasse 5 von Südwesten. Von aussen ist es kaum zu glauben, dass das Gebäude im Wesentlichen noch auf das Jahr 1458 zurückgeht!


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    54) Kugelgasse 5. Oben: Innenansichten an die südliche Seitenfassade und westliche Hauptfassade mit hervorgehobener Struktur des Kernbaus von 1458 (Erdgeschoss angeschnitten); unten: Grundriss des 2. Obergeschosses mit hervorgehobener Struktur des Kernbaus von 1458 (Süden oben!).


    Löwengasse 4 (weitestgehender Abbruch 1983/84)

    Dieses Haus zeigte in den ersten beiden Obergeschossen alle Merkmale eines Wandständerbaus aus der Wiederaufbauphase nach dem Stadtbrand von 1418 (vermutlich massives Erdgeschoss, Ständer über zwei Geschosse verlaufend, Aussteifung mit Fuss- und Kopfbändern, doppelter Rähm, Dachform unbekannt). In der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts wurde das Haus aufgestockt, und mit einem dreifach stehenden Dachstuhl sowie zwei Giebellukarnen versehen. Die Ausfachung des Fachwerks zeigte Reste ehemaliger Sichtbacksteinausmauerungen. Den einzigen Hinweis zur Datierung gibt das sehr ähnliche 3. Obergeschoss von Spisergasse 24, welches von 1475 stammt und ebenfalls Sichtbacksteinausmauerungen aufwies.


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    55) Löwengasse 4. Nachträglich aufgestocktes 3. Obergeschoss (Fachwerk ungenau rekonstruiert) mit ehemaliger Aufzugslukarne, wohl 2. Hälfte 15. Jahrhundert. Die Fensterbrüstungen und die Sturzpartien zwischen den Hauptpfosten waren ursprünglich nicht unterteilt und mit Sichtbacksteinfüllungen ausgefacht.


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    56) Löwengasse 4, Aufnahme des 1983 zutage getretenen Fachwerks. Braun = Kernbau 1. Hälfte 15. Jh.; rot = Aufstockung um 1500; gelb = Veränderungen 17.-19. Jh. (Bänder im Dachstuhl frei ergänzt).


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    57) Spisergasse 24. 1. und 2. Obergeschoss Ständerkonstruktion von 1418, 3. Obergeschoss (ehemals mit Sichtbacksteinfüllungen) von 1475, heute restauriert im Zustand um 1800 mit überkalktem Fachwerk. Man beachte die ununterteilten Fensterbrüstungen sowie die ursprünglich tiefer liegenden Sturzriegel des 3. Obergeschosses.

    Der Dachstuhl von Löwengasse 4 hatte eine grosse Ähnlichkeit mit jenem des Weinfalkens: einen dreifach stehenden Stuhl mit durchgehenden Firststüden. Die Mittelpfettenwände standen auf Schwellen, während die Pfosten der Firstpfettenwand direkt auf den Dachbalken standen. Beim Weinfalken war die Basis der First- und Mittelpfettenwände nirgends sichtbar, sodass diesbezüglich kein Vergleich angestellt werden kann. Bei der Giebelwand von Löwengasse 4 gab es im 1. Dachgeschoss nur eine Riegelkette, und alle Riegel waren an die Sparren mit einem Schwalbenschanz angeblattet. Beim Weinfalken waren es zwei Riegelketten, und die Verblattung mit den Sparren erfolgte mit ganzer Balkenhöhe. Gemeinsam war beiden Dachstühlen der Dachfuss mit eingezapften Sparren und Aufschieblingen.


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    58) Löwengasse 4. Östliche Giebelwand vor dem Abbruch 1983, 2. Hälfte 15. Jh.


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    59) Löwengasse 4. Rekonstruktion der östlichen Giebelwand.


    Goliathgasse 19 (Umbau und Dokumentation 1990/91)

    Der Kernbau datiert von 1450 und besteht aus einer zweigeschossigen Wandständerkonstruktion und einem dreifach stehenden Dachstuhl mit ca. 40° geneigten Dachflächen. Die Auswertung der Dokumentation ist noch nicht abgeschlossen, das Haus reiht sich aber den beiden vorher beschriebenen Bauten ein.


    Webergasse 15 (undokumentiert)

    Dieses Haus wurde im 19. Jahrhundert aufgestockt und musste gleichzeitig massive Eingriffe in die Fassaden erleiden. Als Kernbau ist eine zweigeschossige Wandständerkonstruktion mit angeblatteten Fuss- und Kopfbändern über einem Erdgeschoss unbekannter Bauart ersichtlich. Zusammen mit dem Dachstuhl ist sie sehr verwandt mit jener von Kugelgasse 5 und dürfte daher auch aus der Mitte des 15. Jahrhunderts stammen.


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    60) Webergasse 15 von Nordwesten.


    Schwertgasse 23 (Umbau und Dokumentation ab 1995)

    Der Kernbau mit zwei geschossweise abgezimmerten Geschossen datiert von 1529. Das Fachwerk ist mit Fuss- und Kopfbändern ausgesteift. Die Gefache waren von Anfang an mit Sichtbacksteinfüllungen ausgefacht, die erst bei der ersten Aufstockung des Hauses 1589 einen Verputz erhielten. Nur die Stube und Nebenstube sind mit Bohlenausfachungen versehen. Ungewöhnlich für diese Zeit ist das nur 30° geneigte Satteldach, dessen Sparren auf einer Firstpfettenwand ruhten, am Fuss aber in die Dachbalken eingezapft und mit Aufschieblingen versehen waren.


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    61) Schwertgasse 23. Rekonstruktion des Kernbaus von 1529. Oben: Grundrisse Erd- und Obergeschoss; unten: Fassadenansicht, Längsschnitt durch die Bohlenstuben, Querschnitt.

    Schwertgasse 23 eignet sich nur noch bedingt für einen Vergleich mit dem Weinfalken, da das Haus viel kleiner ist und eine andere Grundrissstruktur hat. Mit seiner flachen Dachneigung ähnelt es eher den Bauten, welche ein Jahrhundert früher errichtet wurden. Die geschossweise Abzimmerung, Backsteinausfachungen und die am Fuss eingezapften Sparren weisen bereits auf die Weiterentwicklung des hiesigen Fachwerkbaus hin, welcher im 16. Jahrhundert seinen grössten Wandel erlebte.


    Spisergasse 19 (Umbau und Dokumentation 1992)

    Dieses Haus wurde 1563 mit Bruchsteinaussenwänden neu errichtet. Für den Dachstuhl wurden auf 1420 dendrodatierten Balken eines älteren Dachstuhls, sehr wahrscheinlich vom Vorgängerbau, wiederverwendet. Seine hypothetische Rekonstruktion basiert ebenfalls auf einem dreifach stehenden Stuhl mit durchgehenden Firststüden und ca. 30° geneigten Dachflächen.


    Fazit:

    Alle hier gezeigten Beispiele, mit Ausnahme von Schwertgasse 23, zeigen sehr mit jenem des Weinfalkens verwandte Dachstühle. Sie stammen hauptsächlich aus der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts. Mit den letzten beiden Beispielen, Vorgängerdachstuhl von Spisergasse 19 von 1420 und Schwertgasse 23 von 1529, sollen Anfang und Ende dieses Zeitraumes markiert werden. Gemeinsam ist allen Beispielen auch die Konstruktion der Vollgeschosse in ein- oder zweigeschossiger Wandständerbauweise, welche mit Kopfbändern und grösstenteils auch mit Fussbändern ausgesteift ist. Die Ausfachungsart ist noch nicht allgemein bestimmbar. Die Grösse und Form der Gefache lassen Backstein- als auch lehmverputzte Rutengeflechtausfachungen zu. Fest steht, dass Bohlenstuben die Regel waren; auch die Nebenstuben waren oft mit Bohlen ausgewandet.

    Beim Weinfalken kann davon ausgegangen werden, dass auch seine beiden Obergeschosse in Wandständerbauweise errichtet waren. Die beinahe identische Fensteranordnung beider Geschosse spricht für durchgehende Ständer über beide Geschosse. Auch wenn man die Möglichkeit berücksichtigt, dass die Obergeschosse älter als der Dachstuhl gewesen sein könnten, ist auch für diesen Fall ist eine zweigeschossige Wandständerkonstruktion anzunehmen.

  • 12. Zusammenführung der bisherigen Erkenntnisse


    Die Erkenntnisse zu beiden Obergeschossen sind recht dürftig ausgefallen. Eine zusammenhängende Betrachtung aller Geschosse und des Dachstuhles könnte aber weitere Hinweise zur Tragstruktur geben. Ebenfalls hilft der Vergleich mit andern Bauten der Altstadt aus derselben Bauepoche, eine Vorstellung der Bauweise der Obergeschosse zu erhalten. So sollen einfach mal lose Gedanken zu jedem Bauteil niedergeschrieben werden:

    a) Dachstuhl

    Der Dachstuhl konnte relativ genau rekonstruiert werden. Die rückwärtigen Bauteile wurden analog den vorderen ergänzt, da keine Unregelmässigkeiten an der Dachform festgestellt wurden. Die Frage der Ableitung der Kräfte auf die Vollgeschosse bleibt aber offen. Aus den bisher erforschten Beispielen geht hervor, dass die Ableitung der Kräfte aller äusseren Stuhlpfosten auf die Fassaden keine Probleme verursacht, auch wenn dort gerade kein Ständer darunter vorhanden war. Die Abfangung der inneren Ständer ist da problematischer, da nicht immer eine Wand darunter liegt. Aus diesem Grund wurden die Stuhlpfosten unter den Pfetten oft auf eine Schwelle gesetzt, um das Gewicht des Dachstuhls auf die Balkenlage zu verteilen. Allerdings schränkten Schwellen die Nutzung des Dachgeschossbodens ein, was aber oft in Kauf genommen wurde. Dachstühle übten somit in der Regel keinen Einfluss auf den Grundriss des obersten Vollgeschosses aus.

    Schwellen unter den Pfettenwänden sind beim Weinfalken weder zu beobachten noch auszuschliessen (First- und Pfettenwände bezeichnen wie bei Fachwerkwänden den Rahmen aus Schwelle, Stuhlpfosten, First- oder Mittelpfette und den notwendigen Streben). Die Lage aller Ständer des Dachstuhls geht aus folgender Skizze hervor:

    metzgergasse-2_dgx1.jpg

    62) Grundriss des 1. Dachgeschosses mit Eintragung der Ständer der First- und Mittelpfetten (die Lage und Anzahl der Ständer unter der hinteren Mittelpfette ist unklar; es sind lediglich die möglichen Standorte eines Mittelpfostens oder der Gegenpfosten der vorderen Aufzugslukarne eingezeichnet).

    Es ist anzufügen, dass die Abfangung der Firstpfette mit nachgewiesenermassen nur einem Bundpfosten sehr dürftig war und nachträglich eine Verstärkung von mindestens einem weiteren Pfosten erforderte (s. Abb. 25). Die Walmfläche erhielt ebenso laufend Verstärkungen.


    Bohl-Marktplatz-um-1900-Zumbuhl-KB.jpg

    63) Marktplatz und Bohl um 1900. In der frontalen Aufnahme ist die Senkung des Firsts zur Gebäudemitte hin besonders gut sichtbar. Sammlung Zumbühl, Kantonsbibliothek St. Gallen.

    Die vordere Mittelpfette lag auf zwei Bundpfosten in der Verlängerung der Aufzugslukarnen-Seitenwände. Die Abfangung der hinteren Mittelpfette ist unbekannt. Dort ist gemäss Bilddokumenten mindestens seit 1889 keine Lukarne nachweisbar, die Einfluss auf den Dachstuhl gehabt haben könnte (vgl. Abb. 12; die kleinen Lukarnen aus barocker Zeit belegten jeweils nur ein Sparrenfeld und waren statisch unbedeutend). Im 16. und 17. Jahrhundert war es üblich, dass eine Aufzugslukarne ein Gegenstück an der Rückseite hatte, allerdings ohne Aufzugsfunktion. Die Gewichtsverteilung auf den Dachstuhl war dadurch gleichmässiger als bei einer einseitigen Lukarne. Für das 15. Jahrhundert ist diese Frage noch nicht beantwortet; beides kommt vor (Löwengasse 4 mit vorderer und hinterer Lukarne, Schmiedgasse 28 ohne Nachweis einer hinteren Lukarne). Beim Weinfalken bleibt daher die Frage nach einer ursprünglich vorhandenen hinteren Lukarne offen.


    b) Aufstockung zur Goliathgasse hin

    Bei der Umzeichnung des Balkenskeletts konnte eine interessante Beobachtung gemacht werden. In der Seitenwand zur Metzgergasse bestand noch der Randsparren der ursprünglichen Dachfläche (rot). Sein Fusspunkt in den Dachbalken konnte ebenfalls ermittelt werden. Nun lag dieser Dachbalken aber auf der Höhe innerhalb der Fenster der Vorderfassade. Zur Veranschaulichung sind die Balkenköpfe der weiteren Dachbalken mit roten Linien dargestellt:

    metzgergasse-2_nachzeichnung-ergaenzt-farbig.jpg

    64) Rekonstruiertes Balkenskelett aus der Abbruchfotografie. Rot = Kernbau, gelb = Aufstockung, hellblau = Veränderung Aufzugslukarne.

    Offensichtlich wurde die Decke über dem 2. Obergeschoss bei der Aufstockung (gelb) um ca. 40 cm angehoben. Diese Erhöhung betraf mindestens die vorderen Räume, wie aus der bearbeiteten Abbruchfotografie (Abb. 30) hervorgeht. Auf dieser ist der Dachbalken nicht sichtbar, da die darüber liegenden Mauerfüllungen zum Aufnahmezeitpunkt erst bis zum höher liegenden Boden ausgebrochen worden waren. In der Mitte der Seitenfassade reicht der Gefachsausbruch bis zum ursprünglichen Dachbalken hinunter. Dort befand sich allerdings das Treppenhaus. Bei den hinteren Räumen wiederholt sich die Beobachtung wie vorne, aber es kann keine schlüssige Aussage gemacht werden.

    Offenbar erfuhr das 2. Obergeschoss bei der Teilaufstockung eine durchgehende Erhöhung um 40 cm, unter Belassung des Dachstuhls. Die Höherlegung der Decke zeichnete sich auch in einem dunkleren Band in der Seitenfassade ab (Abb. 46). Die konstruktive Lösung dieses Vorgangs ist nur schwer vorstellbar.


    c) Aufzugslukarne

    Das grosse und überhohe Format des Fensters in der Front weist es als Produkt des 19. Jahrhunderts aus. Die Abbildung Mayrs von 1790 (Abb. 43) zeigt noch die Auskragung der Aufzugslukarne samt Toröffnung trotz der Hauserhöhung. Das Zurücksetzen der Lukarnenfront in die Fassadenebene muss demnach im 19. Jahrhundert erfolgt sein (hellblau). Nur der Dreiecksgiebel blieb in der ursprünglichen Form bis zum Abbruch erhalten.


    d) Erdgeschossgrundriss und Seitenfassade

    Bei Überlegungen zur ursprünglichen Erdgeschossstruktur wurde aufgrund der Erkenntnisse bei vielen weiteren Altstadtbauten die Hypothese einer ursprünglich geringerer Gebäudetiefe aufgestellt (siehe Kapitel "9. Erdgeschoss"):

    metzgergasse-2_eg-rek_seitenfassade-eintragungenn.jpg

    65) Seitenfassade mit Eintragungen sowie Erdgeschoss im Zustand bis 1912 mit hypothetischer ursprünglicher Grundrissstruktur des Kernbaus (rot).

    Die angenommene ursprüngliche westliche Gebäudeecke könnte sich auch in der Seitenfassade am 2. Obergeschoss abgezeichnet haben. Dort bestand tatsächlich ein dicker Pfosten. Das würde bedeuten, dass der Dachstuhl jünger als die beiden Obergeschosse war und erst bei der rückseitigen Erweiterung aufgerichtet wurde. Hingegen findet sich der dicke Pfosten über dem Kellerhals nirgends im Grundriss. Wurde bei der Erweiterung und der dadurch bedingten Aufrichtung eines neuen Dachstuhls in dieser Ebene auf die ganze Gebäudebreite eine Konstruktion eingebaut, welche die Pfosten unter der Firstpfette mittragen sollte?

    Eine weitere Fotografie unterstützt diese These:

    Bohl-Goliathgasse-um-1900-Zumbuhl-KB.jpg

    66) Blick in die Goliathgasse um 1900. Sammlung Zumbühl, Kantonsbibliothek St. Gallen.


    metzgergasse-2_sw-fassade-balkenkoepfe.jpg

    67) Oben: Ausschnitt aus Abbildung 66. Unten: Eintragung der Balkenköpfe in die Fassadenabwicklung aus Abb. 46.

    Seitlich auf Sturzhöhe der beiden mittleren Fenster des 2. Obergeschosses bestanden zwei Balkenköpfe, die bei der letzten Renovation um 1930/40 abgesägt wurden. Ihre Lage stimmte exakt mit den beiden Bundpfosten des hypothetischen ursprünglichen Grundrisses überein! Links davon erkennt man möglicherweise einen weiteren, kleineren Balkenkopf, der aber ein bisschen höher liegt. Er liegt zudem genau an der hypothetischen ursprünglichen Hausecke. Seine Deutung ist unklar. Man muss auch damit rechnen, dass irgend etwas mal an der Fassade angebracht war und es sich nicht zwingend um einen Balkenkopf handelte.

    Folgende Punkte sprechen also für die Hypothese eines ursprünglich weniger tiefen Grundrisses:

    - identische Gebäudetiefe wie beim Nachbarhaus Goliathgasse 1

    - Lage der Zwischenwände und Kamin im Erdgeschoss

    - reguläres Raumtiefenverhältnis von 1.3 : 1 : 1

    - westlicher Eckständer im 2. Obergeschoss

    - zwei Balkenköpfe in der Seitenfassade.

  • 13. Erster ganzheitlicher Rekonstruktionsversuch


    Die erste Frage zur Rekonstruktion der Fassaden ist natürlich die, nach welchem Konstruktionsprinzip die Obergeschosse des Weinfalkens gebaut waren. War es ein Ständerbau (Ständer über zwei Geschosse durchgend) oder ein Rähmbau (geschossweise abgebundener Fachwerkbau)? Die Bauzeit liegt mit grosser Wahrscheinlichkeit im 15. Jahrhundert. Als frühester Zeitpunkt gilt die Zeit nach dem Stadtbrand von 1418. Mit dem "Kranich" Goliathgasse 21 von 1423, Magnihalden 3 von 1425 und Schwertgasse 17 von 1433 existieren drei sicher datierte Beispiele von früher Bautätigkeit in der unteren Altstadt, an deren Eingang der Weinfalken stand. Bei Goliathgasse 21 und Schwertgasse 33 handelt es sich um zweigeschossige Ständerbauten, welche nicht auf einem separaten Erdgeschoss stehen. Magnihalden 3 besitzt ein separates Erdgeschoss unbekannter Bauart. Ständerbauten, welche auf einem massiven Erdgeschoss oder auf einem solchen aus Fachwerk stehen, werden in diesem Stadtteil ab Mitte des 15. Jahrhunderts die Regel. In der oberen Altstadt stehen nach bisherigem Kenntnisstand die Ständerbauten nach dem Wiederaufbau nach dem Stadtbrand von 1418 immer auf einem separaten Erdgeschoss. Das prominenteste Beispiel ist das Haus "zur Linde" Gallusstr. 29.

    Den spätesten Zeitpunkt der Erstellung gibt die Dachstuhlkonstruktion. Sie ist sehr verwandt mit jener von Schmiedgasse 28 (1460) und Kugelgasse 5 (1458). In diese Gruppe gehört auch Löwengasse 4, zu deren Errichtungszeit (3. Obergeschoss und Dach) nur Spisergasse 24 (3. Obergeschoss von 1475) einen Hinweis liefert. Mit Vorsicht heranzuziehen ist Turmgasse 6, bei welcher das Baudatum in der Literatur jeweils mit 1523 angegeben wird (die Beispiele sind im zweit- und drittletzten Beitrag vorgestellt).

    Für den Weinfalken kommt also eine Errichtungszeit in der Zeitspanne von 1418 und 1523 in Frage. Während dieser Zeit waren zweigeschossige Ständerkonstruktionen durchwegs die Regel, unabhängig davon, ob sie auf einem separaten Erdgeschoss standen oder nicht. Es gibt aber während dieser Zeit kleine Weiterentwicklungen dieser Konstruktionen, auf welche ich hier nicht eingehe.

    Die zweite Frage war diejenige nach der Haustiefe. 18 Meter Gebäudetiefe wie beim Weinfalken waren bis ins 19. Jahrhundert eine grosse Ausnahme, woraus ich schliesse, dass er kaum unmittelbar nach dem Stadtbrand in dieser Tiefe erbaut worden war, welche er bis zu seinem Abbruch besass. Im letzten Beitrag ist dargelegt, dass der Weinfalken zur Bauzeit sehr wahrscheinlich weniger tief war und später eine rückseitige Erweiterung mit dem Halbwalmdach erfuhr. Trotzdem müssen beide Möglichkeiten in Betracht gezogen werden:

    Variante a)

    Kurz nach 1418 entsteht ein dreigeschossiger Kernbau mit ca. 30° geneigtem Satteldach. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wird der Kernbau rückseitig erweitert, und mit einem steileren Satteldach mit Halbwalm versehen.

    Variante b)

    In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts entsteht ein 18 m tiefer Neubau mit steilem Satteldach mit Halbwalm. Vielleicht stand vorher schon ein Vorgängerbau, oder der Bauplatz war noch frei.

    Die Variante b) ist mit Kenntnis der ganzheitlichen Baugeschichte der Stadt eher unwahrscheinlich. Gewissheit könnte nur noch eine Grabung in der Metzgergasse geben (infolge Neupflästerung wird dort noch in diesem Jahr gegraben!), da der Weinfalken mit seiner westlichen Ecke bis 1958 weit in die Gasse vorsprang, und dort auch die Nahtstelle zur vermuteten Erweiterung zu finden sein müsste. Ebenso könnten Hinweise zur Geschichte in der gemeinsamen Trennwand zu Goliathgasse 1 stecken.

    Ich habe mich deshalb zu einem ersten zeichnerischen Rekonstruktionsversuch nach Variante a) entschieden:fassadenabwicklung-rekx.jpg

    68) Erster Rekonstruktionsversuch unter der Annahme eines Kernbaus aus dem frühen 15. Jahrhundert und einer späteren rückwärtigen Erweiterung samt neuem Dachstuhl aus der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts. Von links nach rechts: Rückfassade, Seitenfassade, Vorderfassade (die in die Rückseite eingezeichnete Ständerkonstruktion soll veranschaulichen, dass diese nicht in Einklang mit der bis zum Abbruch bestehenden Fensterdisposition steht; siehe nachfolgenden Text). Vergrösserung.


    fassadenabwicklung-eintrx.jpg

    69) Massstäbliche Fassadenabwicklung mit Eintragung des Fachwerks des Dachstuhls und der Aufstockung sowie Hervorhebung der dunkel verfärbten Stellen im Verputz der Seitenwand.

    Zur Vorderfassade: Auf Grund der Fensterteilung bestanden in der Breite wohl zwei unterschiedlich breite Räume; rechts die Stube und links die Nebenstube (beide wahrscheinlich mit Bohlenwänden ausgewandet). Im 2. Obergeschoss waren auf gleichem Grundriss zwei Kammern angeordnet, welche weniger Fenster besassen. Die linke Seitenwand des Aufzugsgiebels sass zudem auf der Raumtrennwand hinter dem Bundständer.

    Zur Seitenfassade: Die letzte Abbildung zeigt sehr diffuse Befunde. Auffallend ist der mögliche Ständer direkt über dem rundbogigen Kellerportal. Dieser kann aber nicht mit der Grundrissstruktur des Erdgeschosses in Einklang gebracht werden; zudem ist seine Lastabtragung auf das Rundbogenportal des Kellerhalses (sofern dieses ursprünglich ist) sehr ungünstig. Ein Ständer machte aber insofern einen Sinn, dass er die Last der Firstpfette mittrug. Über ihm war auch kein Balkenkopf vorhanden, wodurch er sich ebenfalls von den angenommenen ursprünglichen Ständern unterschied. Ich schliesse daraus, dass mit ihm der Kernbau beim Aufbau des neuen Dachstuhls verstärkt worden war.

    Die beiden Bundständer, von denen sich der rechte im Verputz nicht abzeichnete, sind gemäss den beiden im letzten Beitrag beschriebenen Balkenköpfen platziert. Diese standen zudem im Einklang mit der mutmasslichen Grundrissstruktur gemäss Abbildung 65. Die Rückwand der Stuben zum Mittelraum (mit Flur, Treppenhaus und Küche) kommt so über die erst 1912 entfernte Wand im Erdgeschoss zu stehen. Einen Hinweis darauf gibt auch der Abluftventilator der Gaststube im 1. Obergeschoss, denn solche waren meist unmittelbar neben der Rückwand platziert.

    Der linke Eckständer orientiert sich am Befund gemäss Abbildung 69. Im Bereich der hypothetischen rückwärtigen Erweiterung schimmerte ein Fachwerk mit geschosshohen Streben und zwei Riegelketten durch, wie es im 18. und 19. Jahrhundert üblich war. Die Fenster in diesem Bereich, wie auch jene der Rückfassade, zeigten ein Format, welches zum Quadrat tendiert und typisch für die Zeit um 1800 ist. Die Erweiterung ist somit mit dem Fachwerk von etwa 1800 aus einer weiteren Umbauphase dargestellt, anlässlich derer das Fachwerk wohl verputzt wurde.

    Zur Rückfassade: Diese Fassade wäre die Ansicht an die hypothetische Erweiterung. Von letzterer ist nicht einmal bekannt, ob sie in Ständerbauweise oder geschossweise errichtet wurde. Ein Rekonstruktionsversuch ist hier deshalb nicht möglich. Zur Veranschaulichung, dass die Ständerstruktur des Kernbaus nicht mit jener der Fensteranordnung (welche zwar auch nicht mehr die ursprüngliche war) übereinstimmt, sind die Ständer der Vorderfassade seitenverkehrt hier übernommen. Im 2. Obergeschoss überschneidet der Bundständer ein Fenster; das entsprechende Fenster im 1. Obergeschoss war blind (nur mit geschlossenen Fensterläden vorgetäuscht) und würde den Bundständer an dieser Stelle zulassen. Vermutlich umfasste die Erweiterung zwei gleich breite Räume, was auch einen Vorteil für die Lastabtragung der hinteren Mittelpfette des Dachstuhls bedeutet hätte.