• In dem bedeutenden, 246 S starken Handbuch "Die Eisenwurzen" des vormaligen Landeskonservators für NÖ, Franz Eppel aus dem Jahre 1968 ist selbstverständlich auch die Pfarrkirche zu Scheibbs erwähnt, und dies nicht zu knapp: fast eine Seite Kleingedrucktes. Alles wird umfassend gewürdigt, die schlanke, 'wahrzeichenhafte' Haube von 1609 des achtgeschossigen got. Turms, die 'köstliche barocke Rahmung' des Hl-Geist-Loches, der 'überreiche' Hochaltar und die 'gut ineinander komponierten spätbar. Aufbauten' mit 'abundantem vergoldetem Figuren- und Ornamentschmuck', sowie die gesamte Ausstattung. So geht s einige Zeit dahin, und in der trefflichen Beschreibung und pointierten Würdigung von Kunstwerken liegt denn auch die Stärke vom Eppels Büchern.
    Natürlich kommt Eppel auch auf Raum und Gewölbe der Kirche zu sprechen. Wir lesen von einer spätgot- weiträumigen Hallenkirche mit drei völlig gleich hohen Schiffen. "Mächtige Rundsäulen mit Kompositkapitälen tragen die ziemlichflach horizontal gespannten Netzrippengewölbe. " Und gegen Ende lobt Eppel die westl. Emporenwand, den 'großartigen Westabschluss des Kirchenraumes' der insgesamt durch die rote Färbelung der Säulen und Rippen und dem Weiß der Wandflächen einen spezifischen Reiz besitzt'.
    Das ist alles.
    Die bedeutenden spätgot. Gewölbe der beschriebenen Region (die unserer ASR entspricht) ist Eppel im Vorwort und bei div. anderen Objekten wie zB St. Valentin keineswegs entgangen, insdes scheint ihm Scheibbs in diesem Zusammenhang nicht besonders aufgefallen zu sein!
    Kein Wort über die unikate Gewölbeform, über den genialen Chorabschluss, über diese grandiose Verschmelzung von Chor und Langhaus...
    Nicht zur Eppel schien entgangen zu sein, dass sich hier in der mostviertler-voralpenländischen Einöde ein Kunstwerk von höchstem Rang erhalten hat, ein gotisches Pendant zu Vierzehnheiligen. Zu mehr als einem Stern im Dehio von 1953 hat es für Scheibbs nie gereicht, eine besondere Würdigungist auch hier nicht erfolgt. Hootz erwähnt im HB der Kunstdenkmäler NÖ,OÖ, Bgld Scheibbs nicht einmal, wohl aber Krenstetten und St. Valentin, daneben die Schlingrippengewölbe von Weiostrach und Königswiesen, was von grundsätzlichem Interesse und Wissen für die sondergotischen Gewölbeformen zeugt. Erst in der jüngeren Fachliteratur lesen wir diese allerdings bemerkenswerten Worte:
    "Die überregionale Sonderstellung der dem Einheitsraum so fördernden Kassettendecken in Scheibbs und Gaming kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Überall dort, wo die 'dt Sondergotik' der Zeit um 1500 in höchster Blüte stand... findet sich nichts Vergleichbares. Wenn sich ...zB ... in Schwäbisch Gmünd oder ...Pirna... ähnliche Tendenzen zeigen, dann handelt es sich fast immer um dichte, geometrisch klare Rautennetze, die überdies fast nie die Schiffsgrenzen überschreiten. Ein geradezu diametraler Gegensatz besteht zwischen diesen wohlgeordneten... Deckensystemen und den unberechenbar aufgesplitterten Wölbungslösungen des sw NÖs." (G. Brucher, Got. Baukunst in Ö, 201)

  • Es verhält sich nicht so, dass die ASR bisher vom Kulturtourismus gänzlich übergangen worden wäre, im Gegenteil. Mit Stift Melk liegt ein Wahrzeichen Ö.s an ihrem Rande, daneben erfreuen sich Stift Seitenstetten oder die Kartause Gaming überregionaler Bekanntheit.
    Der Ort Gaming ist überhaupt ein bezeichnender Fall.

    Wir haben bisher die Aussenansichten tw außer Betrachtung gelassen, da sie mitunter ihrer kaum wert waren. Hier, in Gaming, zeigen wir sie.
    Wo würde der geschätzte Leser einen bedeutenden got. Sakralraum erwarten? Hier:

    oder hier, in der ein paar hundert Meter entfernt liegenden Pfarrkirche des Ortes:

    Kein Wunder, dass die Pfarrkirche von 95% aller Kulturtouristen im wahrsten Sinne links liegen gelassen wird.
    Nicht ganz so schlimm ist es um Scheibbs bestellt, wobei ... nun ja:

    Reizlos ist das richtige Wort, mit dem man das Äußere beschreiben kann, was übrigens für den gesamten Marktplatz, ja für die gesamt, übrigens nicht schlecht erhaltene Altstadt von Scheibbs gilt.
    Keine Idee davon, dass hier ein Innenraum wartet, der alles Bekannte von Kutna Hora bis Braunau am Inn in den Schatten stellt.
    Hier n ganz nettes Ensemble:

  • Dieser Befund wird sich bei näherer Betrachtung erhärten.
    Hier das 'Langhaus':

    (Bild 1)
    Und hier der Bereich eines fiktiven Querhauses samt Chor:

    (Bild 2)

    Das Gewölbe auf Bild 1 ist eindeutig in Längsrichtung orientiert, wozu es nicht einer genauen Analyse, was wir hier eigentlich sehen, bedarf. Eine derartige Analyse würde keine eindeutigen Ergebnisse bringen, ich tendiere zu gezogenen, beinahe ovalen und überdies ineinander verzahnten Zehnecken.
    Wie auch immer - zwei Dinge stehen fest:
    a) es findet eine für die Sondergotik der ASR (im Folgenden: ASSG) typische mechanische Reihung gleicher Motive statt - nur sind diese bereits deutlich komplexer als üblich, wodurch keine eindeutige Lesbarkeit mehr besteht.
    b)Da diese Reihung in Längsrichtung erfolgt, ergibt sich daraus eine Betonung der Längsachse.
    Zumindest, wenn man s so haben will:

    Der selbe Befund ergibt sich nämlich auch in Querrichtung, was Aussage b) zwar einschränkt, aber nicht entkräftet, was sehr gut ist, denn wir werden sie noch brauchen! Nämlich gleich jetzt, wenn wir uns Bild 2 ansehen.

    Die Längsachse verschwimmt nicht völlig, verliert aber stark an Gewicht zugunsten eines Zerfließens in die Breite. Hier treffen wir endlich auf das 'klassische' Motiv der ASSG: die quadratgerahmte Bogenraute in ununterbrochener Reihung. Diese Reihung findet statt: in genauer Jochmitte in Querrichtung sowie in den Seitenschiffen in Längsrichtung:

  • Mit diesem Wissen können uns die folgenden Bilder nicht mehr verwirren.
    "Seitenschiff" im "Querhaus"-bereich:

    "Langhausbereich" gen W:

    aus verschiedenen Blickwinkeln...

    Wie gesagt, das funktioniert auch derquer, so perfekt ist die Raumvereinheitlichung geglückt:

    Die korinthischen Kapitelle (hier eins im 'Querhausbereich') unterstreichen nur die 'barockgotische' Gesamtwirkung. Wie wohl das Problem der Rippenabschlüsse früher gelöst war?

    Und noch einmal 'Barock gegen Gotik':

    Diese gotische Architektur forderte geradezu barocke Exzesse heraus.

  • Besonders interessant ist jener Bereich, in welchem die beiden Formkonzept aufeinander stoßen. Da zentral gelegen, befindet er sich fast immer im Blickfeld und trägt damit entscheidend zum Eindruck der Unauflösbarkeit bzw Unlesbarkeit der Gewölbestruktur bei.

    Diese Situation besteht natürlich auch in den Seitenschiffen, ist hier aber leichter durchschaubar:

    Noch ein letzter Blick auf die schon von Prof. Eppel gelobte Westempore:

    Soviel zu Scheibbs. Die Stimmung dieses herrlich dämmerfarbigen Innenraums, der wie nur wenige andere (selbstverständlich nur fränkisch-barocke) den Verweiler in tranceartige Zustände zu versetzen vermag, ist photographisch nicht leicht wiederzugeben, überhaupt, wenn man wie ich die Bilder aus der Hand macht.
    Der nächste Raum wird sowohl photographisch als auch apperzeptiv einfacher.

  • Die Rede ist natürlich von der bereits erwähnten, äußerlich so wenig ansprechenden Pfarrkirche zu Gaming.
    Der Innenraum ist klein aber fein:

    Wir treffen auf eine alte Bekannte: die gute alte Bogenraute. Mal im Quadrat, mal im Sechseck gerahmt. Die daraus ausschwärmenden Rippen ergeben eine ziemlich komplexe Struktur, aber da sind wir von Scheibbs her schon Schlimmeres gewohnt.

    Wie auch in Scheibbs macht sich die Barockausstattung hervorragend:

  • Hier mal als sächsisches Pendant bzw als Antithese (wie s grad beliebt):

    Quelle: Erlebnisland Ezgebirge

    Südliche Clarté an Stelle von nördlichem Wildwuchs.
    Bei dieser Gelegenheit darf ein kleinwenig Statistik nicht fehlen:
    Die Scheibbser PfK ist die größte der Region ("Dom des Erlauftales").
    Wie indes nimmt sie sich im Vergleich zu den auch hier vielzitierten sächsischen Hallenkirchen aus?
    Wie kaum überraschend, ist sie eindeutig die kleinste:
    54 x 30 m(wobei die Breitenangabe infolge der wohl hinzugezählten Barockkapellen problematisch erscheint. Meiner Einschätzung nach ist die Sch PfK deutlich schmäler als ihre sächsischen Pendants, hier dürfte auch der entscheidende Größenunterschied liegen).
    Pirna: 65x 35
    Annaberg: 65x 40
    Schneeberg: 61x 28
    Marienberg: 45 (ohne Chor!)x 26
    Brüx: 60x 30
    vgl auch Amberg, den Vorbildbau: 72x 20,5
    Schw. Gmünd Münster: 'Schiff' 45x 24 + Chor 33x 28

    Im Vergleich noch der Initialbau der ASSG, Steyrer Pfarrkirche: 65x 25
    sowie die Muterpfarre der ASR, Kilb: 50x 20

  • Vom ungemeinen Forums-Echo beflügelt, fahre ich mit dem Markt Saxen fort.
    Dieser Ort nimmt eine geographische Sonderstellung innerhalb des ASSG-Gebietes ein: dass er bereits zu OÖ gehört, ist weniger außergewöhnlich, das trifft auf den Initialbau in Steyr ja auch zu; Saxen indes liegt als einziger Ausläufer der ASSG jenseits der Donau.

    Zweischiffige Hallenkirche.
    Hier sieht man die ASSG spezifischen Reihungen einfacher geometrischer Figuren entlang der Längsachse:

    Drei Besonderheiten fallen mir auf:
    1) Die Losgelöstheit der Wandpfeiler von der Wand (vgl Steinakirchen aF)

    2) Die Unabhängigkeit der Rippen von der eigentlichen Wölbungsstruktur - nicht alle Kanten sind mit Rippen versehen:

    3) Die provokante Asymmetrie des Seitenschiffes:

  • Nun ein 'klassischer' Fall von ASSG:
    Mank
    Wie immer sieht man von außen nicht viel:

    ein relativ frühes, nach einigen nicht ganz ausgegorenes Beispiel:

    eine etwas ungeschlachtete Variante von Purgstall.

    Immerhin hat der Raum typische Expressivität der ASSG.

    Das nahegelegene St. Leonhard am Forst hingegen ist äußerlich interessanter als die meisten Kirchen der Region,

    weist dafür im basikalen Inneren keinerlei Züge der ASSG auf.

    Das wär s bis auf weiteres aus der ASR. Rein zahlenmäßig haben wir nur einen Bruchteil der Kirchen abgeklappert, aber ich denke, dass wir bis auf Weistrach die bedeutendsten gesehen haben.

  • Hab das erst jetzt gesehen, deinen Beitrag, Tobi.
    Ein sehr interessantes Gewölbe.
    Der Formenreichtum bei uns ist wirklich vom Feinsten.

    Wir machen nach diesem OÖ-Exkurs (immerhin kam die Mostviertler Sondergotik aus Steyr, sohin OÖ) weiter mit - eben mit der Mostviertler Sondergotik.


    Der wenig abgebildete Chorraum der Pfarrkirche zu Weistrach.
    Im Gegensatz zum Langhaus ist das Gewölbe in der Aneinanderreihung einfacher geometrischer Formen typisch für die MSG. Charakteristisch ist die absolut ungotische Betonung der Breitendimension.

    Weistrach wie man's kennt (Langhaus): Waldartiges Interieur mit wildwucherndem Schlingrippengewölbe. das in Ö zwar häufig anzutreffen ist, aber eben im Mostviertel eine Sonderstellung einnimmt(immerhin gibt es zu Scheibbs zumindest auch entsprechende Ansätze).

    Für mich ist der Übergang zwischen Langhaus und Chor und das Aufeinanderprallen besonders faszinierend. Auch in Scheibbs war das Aufeinanderprallen zweier Gewölbeausrichtungen zu beobachten, der dort allerdings viel jäher ausfielt, durch keinen Triumphbogen getrennt wurde und dadurch eine noch viel komplexere Wirkung entfaltete.

    Ein äußerst faszinierender Kirchenraum!
    Man beachte im Langhaus den Wildwuchs des Rippenverlaufs, der sich von der architektonischen Anlage löst. Die Gewölbekanten sind nicht mehr mit Rippen versehen.
    Hier noch mal zum Vergleich Scheibbs:

    Die zweite wichtige Landkirche im Schatten des Stiftes Seitenstetten befindet sich im unweiten St. Peter in der Au´.
    Wir haben sie bereits erwähnt, auch im Zusammenhang mit der DDer Schlosskapelle.

    Wir finden hier das Leitmotiv der MSG, die sogenannte Raute (die in Wirklichkeit ein Karo ist). Jede zweite Raute wird von einem Rechteck eingerahmt, das wiederum breitseitig angelegt ist.
    Hier noch zwei Bilder vom sehr interessanten Äußeren. Wie man sieht, handelt es sich um eine Wehrkirche.
    An sich könne man von St. Peter eine kleine Galerie aufmachen. Leider sind die meisten Bauten wie das Schloss und die wertvollen Marktplatzhäuser unvorteilhaft modernisiert.

    Und zum Abschluss ein besonderes Schmankerl:

    Die Pfarrkirche in Wolfsbach wird in Bruchers Standardwerk nicht einmal erwähnt. Wieder eine höchst originelle Aneinanderreihung geometrischer Formen, die diesmal etwas komplexer ausfallen (Sternmotiv, darüber wieder die unvermeidliche Raute, die hier zum Zwölfeck wird). Insgesamt wieder ein Beleg für die Fülle an Originalität der Gotik in jener Region. Auf engstem Raum haben wir drei äußerst interessante und differierende Beispiele gesehen.