Österreich kann als Land der Gotik angesehen werden. Das mag für viele überraschend klingen, scheinen doch unsere Städte in erster Linie vom Barock geprägt. Darüber wird auf unser gotisches Erbe anscheinend ziemlich vergessen, ein Erbe, das sowohl in quantitativer als auch (vor allem!) qualitativer Hinsicht unser Land beträchtlich prägt. Vor allem in der Spätphase hat sich die Gotik bei uns zu ungeahnten Leistungen emporgeschwungen.
Eingangs als kleine Wiederaufnahme ein bereits anderswo vorgestelltes literarisches Zitat:
ZitatAn diesem Vormittag waren Professor Pfeiffer und ich zum Rundgang eingeteilt. Mit Rucksäcken versehen, schlenderten wir gemütlich durch die goldene herbstliche Landschaft und versanken....in ein angeregtes Gespräch über die unter anderem gehäuft im Raum Amstetten beheimatete sogenannte Österreichische Sondergotik, die Pfeiffer seinem Naturell gemäß überaus zusagte, und die er als einen der Höhepunkte abendländischer Baukunst in höchsten Tönen pries. Ich stimmte ihm zu, was den komplexen Formenreichtum der einzigartigen Schlingrippengewölbekonstruktionenen von, nur um einige prominente Beispiele zu nennen, St. Valentin, Gaming oder Scheibbs anbelangt, dem in seiner Art tatsächlich nichts Adäquates an seine Seite zu stellen ist, vermeinte jedoch, dass jener durchaus liebenswert-schrullige, jedoch zugegebenermaßen etwas entartete Wildwuchs bei all seiner unbestreitbaren Originalität nicht zu einer Überschätzung dieses in seiner letztendlichen Ausformung doch eher provinziell gebliebenen Sonderstils führen dürfe. Komplexität, überhaupt in dieser wirren, überquellenden Erscheinungsform, sei eben doch nicht das einzige Kriterium künstlerisch-ästhetischer Betrachtungsweise, weshalb etwa dem rationalen, regelmäßig-geometrischen Aufbau der obersächsischen Gewölbestrukturen jedenfalls der Vorzug zu geben sei. Pfeiffer protestierte aufs Schärfste gegen diesen, wie er sich ausdrückte, einem reaktionären, abgeschmackten Klassizismus und damit verbunden einer unerträglich nivellierenden Primitivität das Wort redenden Ansatz. Um mich zu provozieren, verstieg er sich sogar zu der Albernheit, die Pfarrkirche zu Scheibbs als architektonisches Ganzes über die gewaltige Marienkirche zu Pirna zu stellen.
Als ich, jeglichen Streit vermeiden wollend, schüchtern vorgebrachte, dass das Werk des Peter Ulrich von Pirna summa summarum dennoch gar nicht so übel und daneben im internationalen Rahmen merkwürdigerweise sogar einigermaßen berühmt sei, verstieg sich Pfeiffer immer mehr zu wüsten Ausfällen gegen alles Sächsische, was schlussendlich in hässlichen Beschimpfungen Robert Schumanns und vor allem Richard Wagners gipfelte...
(Heimito von Doderer, Repetitorium IV)
Wir werden uns im Folgenden nicht nur mit der Amsteettner Region auseinandersetzen, sondern mit der gesamtösterreichsichen Situation. Als Einstieg war dieser Verweis dennoch gut geeignet, da sich hier das Wesen der österr. Spätgotik so markant wie nirgendwo sonst präsentiert.