Eine vertane Chance
Anläßlich des fünfhundertjährigen Bremer Reformationsjubiläums am 9. Novemer 2022 fand die letztjährige Jahrestagung der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte ausnahmsweise einmal außerhalb der Grenzen dieses Bundeslandes und zwar in Bremen statt.
Die gelegentlich dieser Tagung gehaltenen Vorträge wurden jüngst in dem Jahrbuch der Gesellschaft (119./120. Band 2021/22) publiziert. Da meine Wenigkeit einer der Referenten sein durfte, erlaube ich mir hier aus meinem Beitrag auszugsweise gerafft zu zitieren und auch zwei der zugehörigen Abbildungen hier Farbe (in der Veröffentlichung konnten sie aus Kostengründen lediglich schwarz-weiß abgedruckt werden) beizufügen.
Inhaltlich geht es bei diesem Exzerpt um die aus den ersten Nachkriegsjahren datierenden Pläne des Architekten Fritz Brandt hinsichtlich eines Wiederaufbaus von St. Ansagrii an historischer Stelle.
"Vor dem Hintergrund der allgemeinen Zeitumstände und des Schocks über den Turmsturz brauchte es nach Ende des Krieges sehr lange, bis man in der Gemeinde begann, sich mit der Frage der weiteren Verwendung der Kirche zu beschäftigen. Auch die schon 1946 von Seiten des Bremer Baudirektors erhobene Forderung nach einer Rekonstruktion des städtebaulich unverzichtbaren Kirchturms fand von Seiten der Gemeinde zunächst kein öffentliches Echo. Drei Jahre nach Kriegsende wurden dann aber zwei Parteiungen erkennbar, die entgegengesetzte Ansätze hinsichtlich des Umgangs mit der alten Kirche vertraten:
Am 18. Juli 1948 wurde die im Auftrag der Ansgarii-Gemeinde vom Architekten Fritz Brandt zu einer „Notkirche“ umgebaute Baracke der ehemaligen „Organisation Todt“ an der Ecke Schwachhauser Heerstraße / Holler Allee mit einem Weihegottesdienst in liturgischen Gebrauch genommen. Mit dem sechsunddreißigjährigen Claus Liske hielt ein junger Pastor die Weihepredigt, der die alte Kirche selber nicht mehr aus eigenem beruflichen Erleben kannte und für den es deshalb wesentlich leichter war, sich innerlich von der – immer noch imposanten – Ruine zu distanzieren, als es den beiden während des Krieges verstorbenen, langjährigen Ansgarii-Pastoren, Bode und Leonhardt möglich gewesen wäre. Liskes Predigt basierte auf 1. Korinther 3.11: „Einen anderen Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“ Die bei der Auslegung entscheidenden Worte Liskes waren dann: „Es ist besser, einen bescheidenen Raum mit dem Worte Gottes zu erfüllen als ein stolzes Gebäude zu besitzen, das leer bleibt.“ Durch die Zuweisung des positiv konnotierten Adjektivs ‚bescheiden’ an die Notkirche und die Betitelung des historischen Gebäudes mit dem negativ besetzten „stolz“, wurde begonnen, die Zuhörer suggestiv zugunsten der Aufgabe der alten Kirche zu beeinflussen."
Dem gegenüber entwarf der Architekt der Gemeinde, Fritz Brandt im November 1948 einen Plan, der einen partiellen Wiederaufbau der alten Kirche in situ vorsah und insbesondere den stadtbildprägenden Turm - dem Postulat des Baudirektors folgend - zurückgewonnen hätte. Der Plan verzichtete auf das komplette Langhaus sowie auf das Joch nördlich des Turms. An deren Stelle sollten dreigeschossige, einen offenen Innenhof säumende Geschäftshäuser entstehen. Der Hauptzugang zu Innenhof und „Rumpfkirche“ hätte durch den in voller Höhe, jedoch ohne Fenster, Blenden und Ziffernblatt sowie lediglich durch Geschossbänder gegliederten Turm geführt, dessen Helm allerdings originalgetreu rekonstruiert worden wäre. Durch eine Wand vor Vierung und Querhaus wäre die Kirche nach Westen hin zum neuen Innenhof abgeschlossen worden. Die reformations- und stadtgeschichtlich hochbedeutsame Zütphenkapelle wäre innerlich und äußerlich komplett wiederhergestellt worden und hätte zukünftig die Funktion einer Taufkapelle übernehmen sollen.
Aus dem Plan Brandts und der Weihpredigt Liskes ergibt sich somit folgendes Gesamtbild: Im Jahre 1948 hatten sich in der Gemeinde bereits Kräfte formiert, die auf die dauerhafte Trennung der Gemeinde von ihrem angestammten Gotteshaus hinarbeiteten. Gleichzeitig war aber die Gegenmeinung, die an der „Schaarskaaken“ festhalten wollte, immer noch so stark, dass ein gemeindlicher, kostenpflichtiger Auftrag an Brandt – dieser wird nicht pro bono gearbeitet haben – für Entwürfe bzgl. des Wiederaufbaus an der angestammten Stelle erteilt wurde. Pastor Liske mag da vielleicht das „Zünglein an der Waage“ gewesen sein, welcher die Gemeinde in Richtung Aufgabe von alter Kirche und Kapelle bewegt hat."
Abbildung 01
Brandt-Plan von 1948 - ohne Giebel des südlichen Querhauses - Grundriß.
Abbildung 02
Brandt-Plan von Januar 1949 - mit Giebel des südlichen Querhaues - Ansicht von der Obernstraße.