UNESCO-Welterbetitel, was ist er wirklich wert?

  • Ein politisch korrekter Ethnologe jammert, dass Europa "zu viele" Welterbetitel" besitzt und will mehr "Gleichheit "...

    Interview: Europa dominiert mit Unesco-Welterbe https://share.google/XcvpQhQszCf5aF6b7

    Was ist eure Meinung generell zu dieser Auszeichnung der UN? Eine angemessene Art, um herausragende Denkmäler weltweit bekannter zu machen oder selektives Vorgehen um oberflächliche Touris zu unterhalten?

  • Ich denke, dass der Tourismus erst durch die Thematisierung des Welterbes in den Medien kommt, aber nicht die Ursache für die Titelvergabe ist. Der Titel wird ja nicht vom örtlichen Tourismusverband vergeben.

    Das Jammern über eine angebliche "Ungleichverteilung" von Welterbe bedient einfach den aktuell dominanten postkolonialen Diskurs, in dem sich hiesige Vertreter solcher Institutionen (Brumann ist u.a. Professor am Max-Planck-Institut und Honorarprofessor für Ethnologie an der Universität Halle-Wittenberg) bewegen. Würden sie das nicht bedienen, könnte das negative Auswirkungen auf die Karriere haben. Also plappern sie mit.

    Ansonsten wird von ihm gar nicht die Frage aufgeworfen, ob es möglichenfalls in einigen Ländern einfach nicht so viele potenzielle Welterbestätten gibt wie anderswo. Dass "Ungleichverteilung" eben aus Unterschiedlichkeit resultiert. Das könnte man allenfalls "ausgleichen", indem man Naturlandschaften wie Wüsten und Berge eben zu "Welterbe" erklärt. Was ja auch gemacht wird. Wird das ausgeweitet, damit alle bedient werden, wird der Begriff "Welterbe" irgendwann ausgehöhlt und bedeutungslos.

  • Nun sind auch die Hersteller von Schwarzwälder Kuckucksuhren der Welterbomanie verfallen:

    Baden-Württemberg: 175 Jahre Kuckucksuhr: Schwarzwälder wollen sie nun als Unesco-Kulturerbe schützen
    Die Kuckucksuhr in ihrer typischen Form feiert ihren 175. Geburtstag - doch die Branche steht vor Herausforderungen. Warum Hersteller jetzt auf mehr Schutz und…
    www.tagesschau.de

    Von mir aus können nun auch die Tiroler Balkone Welterbe werden.

  • Was soll an "Tiroler Balkonen" auszusetzen sein? Die von Dir verlinkten Beispiele mögen im Detail teilweise recht überkandidelt sein, aber grundsätzlich sind das ganz normale Balkonformen, wie man sie an bayerischen und tirolerischen Bauernhöfen findet.

    "In der Vergangenheit sind wir den andern Völkern weit voraus."

    Karl Kraus

  • Echte Tiroler oder bairische Balkone sind schon „stilprägend“- und zwar wirklich international - oft leider auch im negativen Sinne.

    Die Bilder die unter dem Link zu finden sind, gehen doch recht häufig in Richtung „Jodlerstil“.
    Es findet auch hier eine Polarisierung statt - man beachte die Bilderserien im APH zu Tirol, die man aber so auch fast eins zu eins aufs bayerische Voralpenland übertragen könnte - Abrisse und Verstümmelung en masse, und ab zu dann doch jemand der traditioneller bauen will, aber dann gleich wieder in die andere Richtung komplett ausschlägt… Gute, maßstäbliche Neubauten sind selten.

  • Der letzte Absatz stimmt in Bezug auf das oberbayrische Voralpenland überhaupt nicht... in den ländlichen Gegenden, in denen ich regelmäßig unterwegs bin - im Isarwinkel, in Murnau, im Werdenfelser Land, gibt es strenge Gestaltungssatzungen und es wird geschätzt zu 90% traditionell gebaut. In den Städten ist das leider anders (vor allem im eh schon häßlichen Garmisch), aber in den ländlichen Bereichen sind modernistische Neubauten die totale Ausnahme bis nicht-existent. Das heißt zwar nicht, dass jedes in traditionellen Formen neugebaute Haus gelungen ist, aber die Grundform des alpenländischen Bauernhauses mit großen, öfters auch umlaufenden Lauben, wie man die Balkone traditionellerweise nennt, wird meistens gewahrt. Auch in östlicheren Bereichen Oberbayerns wie im Chiemgau sehe ich überwiegend traditionelle Neubauten. Ab einer gewissen Distanz zu den Bergen - nördlich vom Isarwinkel und vom Tegernsee ab ca. Holzkirchen - hört es mit den traditionellen Neubauten aber auch bald wieder auf, so dass in der Umgebung von München überwiegend modern und häßlich gebaut wird. Aber das eigentliche Voralpenland, der ganze Nordsaum der bayerischen Alpen ist überwiegend noch sehr traditionell geprägt. Wer z.B. in den Isarwinkel fährt, in die Gegend Bad Tölz, Gaißach, Lenggries, wird dort mit Ausnahme des Stadtrands von Bad Tölz (das als Stadt aber wieder anderen Gesetzesmäßigkeiten folgt) kaum ein modernistisches Haus finden, obwohl dort viel neu gebaut wird. Überhaupt kein Vergleich zu Tirol!

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    Karl Kraus

  • Was soll an "Tiroler Balkonen" auszusetzen sein?

    Die ursprünglichen Tiroler Balkone sind schon in Ordnung, aber was daraus im 20. Jahrhundert gemacht worden ist, ist unbeschreiblich. Gerade im Vorarlberg gibt es x Firmen, die sich ausschliesslich auf solche Balkone (Massenware!) spezialisiert hat und an Strassenrändern Werbung dafür macht. Je verzierter und überladener ein Balkon ist, desto populärer ist er. Und diese werden nicht etwa an Gebäuden im traditionellen Stil angebaut, sondern an den unpassendsten Gebäuden, so als Schmuckstück etwa. Und an Längen, Anzahl und über Eck laufend gibt es keine Grenzen. Deshalb haben die Tiroler Balkone bei uns ein sehr schlechtes Image. Ich kenne niemand, der an die historischen Vorbilder denkt. Gerade im Film Topographie "Der Jodlerstil", den Thommystyle oben bereits verlinkt hat, sieht man bei 17:08 und 19:15 historische Beispiele aus Bayern, die wohl verziert, aber nicht überladen sind. Und hier sieht man historische Beispiele aus dem Tirol. An solche Balkone denkt man nicht, wenn man 'Tiroler Balkon' hört.

    Den Film hatten wir vor Jahren schon einmal im APH verlinkt. Er ist Teil einer mehrteiligen Reihe. Pflichtlektüre für jeden Hausbesitzer!!

  • Die Filme von Wieland kenne ich natürlich, den Ausdruck Jodlerstil auch. Den Ausdruck "Tiroler Balkone" als Pejorativum hingegen hatte ich noch nie gehört und habe deswegen in erster Linie an die traditionellen Beispiele gedacht, die in Bayern und Tirol immer noch in der Mehrheit zu finden sein dürften. Dass es gerade in Tirol aber auch nicht wenige kitschige und überladene Balkone gibt, ist mir aber natürlich auch aufgefallen. Dass solche Balkone an ansonsten stilistisch modernen Gebäuden angebaut werden, habe ich glaube ich noch nicht gesehen, meistens sind dann auch die Häuser dementsprechend kitschig.

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    Karl Kraus

  • Der letzte Absatz stimmt in Bezug auf das oberbayrische Voralpenland überhaupt nicht... in den ländlichen Gegenden, in denen ich regelmäßig unterwegs bin - im Isarwinkel, in Murnau, im Werdenfelser Land, gibt es strenge Gestaltungssatzungen und es wird geschätzt zu 90% traditionell gebaut.

    Um so besser! So ganz kann ich mir die 90% - auch aus eigener Anschauung - nicht vorstellen, denn, was heißt traditionell? Ein Balkon macht noch keinen Sommer. Die Zerstörung seit den 1960er ist außerdem immens...

    Mal auf die schnelle, wie heute gebaut wird:

    google.com/

    google.com/

  • Thommystyle, ich hab's in meinem Beitrag schon geschrieben: in den Landstädten - vor allem an den Stadträndern - wird moderner gebaut, dazu gehören auch Tölz und Murnau. Trotzdem finde ich Dein Murnauer Beispiel noch einigermaßen passend, weil es die Grundform des Bauernhauses wahrt. Das Tölzer Beispiel ist völlig unpassend, das stimmt, aber es ist keineswegs repräsentativ für das, was auf dem Land, d.h. außerhalb der Landstädte, in den Dörfern gebaut wird. Dort wird überwiegend so gebaut:

    2024-04-30_Photo+-+3.jpg?format=2500w
    (Neubau in Lenggries im Isarwinkel)

    Das ist zwar auch kein architektonisches Schmankerl, aber von der Form her absolut in der Tradition, wie im gesamten 20. Jh gebaut wurde. Wenn Du durch den Isarwinkel fährst, durch Gaißach, Obergries, Lenggries, Arzbach, Wackersberg, wirst Du zu geschätzten 90% solche oder ähnliche Häuser finden, mal besser mal schlechter, aber vom Typ her in den allermeisten Fällen so. Mitunter, vor allem im Werdenfelser Land, wird öfters auch mit mehr Verzierungen gebaut, dort gibt es auch Neubauten mit aufwendigen Schnitzereien, wovon ich vor kurzem schon einmal ein schönes Beispiel aus Krün gezeigt habe:

    Schrag-2.jpg

    Erst gestern hab ich in Wallgau den gerade stattfindenden Umbau eines in der Substanz älteren Hauses gesehen, der zeigt, wie so etwas durchaus öfters gemacht wird:

    Wallgau.jpg

    Die gesamte Dachzone ist laut Inschrift von 2023, der Anbau und die Fenster sind auch sichtlich neu. Wie der Balkon werden wird, weiß ich nicht, aber da die neue Dachzone schon sehr geschmackvoll realisiert wurde, nehme ich an, dass sie beim Balkon auch nichts Schlimmes veranstalten werden. Nicht jeder Bau wird so gut gemacht wie hier, aber es ist deutlich wahrscheinlicher, so etwas zu finden, als Dein Tölzer modernistisches Beispiel.

    Schau her, ich bin in der Tölzer Gegend aufgewachsen, ich kenne das gesamte bayrische Oberland seit vielen Jahrzehnten aus regelmäßiger Anschauung. Natürlich gibt es immer wieder modernistische Vorstöße und die Grenzlinie zwischen moderner und traditioneller Architektur verschiebt sich wahrscheinlich auch immer weiter nach Süden, aber wie ich oben geschrieben habe ist die bauliche Situation südlich von Holzkirchen immer noch überwiegend positiv, mit Ausnahme der Landstädte, an deren Rändern seit langem schon moderner und häßlicher gebaut wird. Aber sobald Du in die Dörfer kommst, findest Du wirklich überwiegend traditionelle Architektur, mal besser, mal schlechter, aber meistens nach althergebrachten Formen. Wenn Du durch das ganze Oberland fährst, durchs Werdenfelser Land, durch die Gegend um Murnau bis nach Schongau, Peißenberg, Pfaffenwinkel, durch den Isarwinkel, nach Miesbach, Wasserburg bis ins Chiemgau, dann wirst Du überwiegend traditionelle Ortsbilder vorfinden, je weiter Richtung Berge, umso mehr. Das heißt nicht, dass ich die negative Entwicklung, die immer mehr hereindrückt, nicht wahrnehme, aber im Vergleich mit anderen Gegenden und vor allem mit Tirol ist das bayerische Oberland immer noch eine Insel der Glückseligen. Nimm's mir nicht übel, aber ich hab schon den Eindruck, dass Du das Oberland eher oberflächlich kennst und dass Du außerdem immer äußerst kritisch und anspruchsvoll bist, was vielleicht nicht ganz realistisch ist. Ich persönlich kann mit den meisten Neubauten im Oberland recht gut leben, die Gegend ist immer noch überwiegend sehr schön. Und auch Bad Tölz ist trotz etlicher moderner Bauten am Stadtrand immer noch eine sehr schöne Kleinstadt, auch in der Mehrzahl der Neubaugebiete stehen Häuser, die durchaus akzeptabel sind. Die historische Altstadt, vor allem natürlich die Marktstraße, wird erstklassig erhalten und ist ein absoluter Traum. Von daher stören mich die modernen Bauten am Stadtrand, die zumindest bislang auch kaum im Landschaftsbild auffallen, ziemlich wenig.

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    Karl Kraus

  • Ich muss zugeben, da bin ich tatsächlich auch ein wenig (viel?) Dieter-Wieland-geschädigt. Ich bin mit seinen Filmen aufgewachsen, hab diese bereits als Kind gesehen (weil mein Vater jeden Sonntag 'Unter unserem Himmel' laufen hatte und hat) und seine Sicht der Dinge ist mir (bis auf wenige Ausnahmen die ich anders sehe) in Fleisch und Blut übergegangen, da bin ich sehr puristisch unterwegs. Deshalb auch eine erhöhte Sensitivität oder wie du schreibst "immer äußerst kritisch und anspruchsvoll" :smile: und ja wahrscheinlich ist die Kritik nicht immer angemessen, da man nur einen Blick auf den Rest der Baurepublik (oder eben zum Nachbarn Tirol) werfen muss, um zu sehen, dass es sehr viel schlechter geht, da relativiert sich diese Hypersensivität auch gleich wieder. Sehr wahrscheinlich unterscheidet sich da unsere Auffassung auch, was man als "traditionell" bezeichnen kann, was gerade noch geht, und was nicht mehr dem "Kanon" entspricht.